Die Frau des Zeitreisenden
erschöpft. Zu meiner Überraschung gehorchen sie. »Was ist passiert?«, frage ich Henry, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegt und versucht, sich nicht zu bewegen. Er öffnet die Augen und blickt, bevor er antwortet, kurz zu mir auf.
»In ein paar Minuten bin ich weg«, sagt er schließlich leise. Er sieht Henry an. »Ich möchte einen Drink.« Henry springt auf und kommt mit einen Saftglas voll Jack Daniels zurück. Ich stütze Henrys Kopf, und er schafft es, ungefähr ein Drittel zu trinken.
»Ist das klug?«, fragt Gomez.
»Weiß nicht. Ist mir egal«, versichert Henry ihm vom Boden aus. »Es tut höllisch weh.« Er keucht. »Tretet zurück! Macht die Augen zu...«
»Warum?«, setzt Gomez an.
Henry krümmt sich auf dem Boden, als wenn er einen Stromschlag erhalten hätte. Mit heftig nickendem Kopf schreit er »Clare!«, und ich schließe die Augen. Ein Geräusch wie von einem reißenden Bettlaken ertönt, nur lauter, und dann folgt eine Kaskade aus Glas und Porzellan, und Henry ist verschwunden.
»O Gott«, sagt Charisse. Henry und ich starren uns an. Das war anders , Henry. Das war brutal und hässlich. Was geschieht mit dir? Sein bleiches Gesicht sagt mir, dass auch er es nicht weiß. Er untersucht den Whiskey auf Glassplitter und trinkt ihn dann aus.
»Was ist mit den vielen Glasscherben?«, fragt Gomez und klopft sich behutsam ab.
Henry steht auf, streckt mir die Hand hin. Er ist mit einem feinen Schleier aus Blut, Porzellanstaub und Glassplittern bedeckt. Ich stehe ebenfalls auf und sehe Charisse an. In ihrem Gesicht prangt eine große Schnittwunde, aus der Blut über ihre Wange hinabläuft wie eine Träne.
»Alles, was nicht zu meinem Körper gehört, bleibt zurück«, erklärt Henry. Er zeigt ihnen die Lücke, wo er sich einen Zahn ziehen ließ, weil die Füllung immer wieder herausfiel. »Egal, in welche Zeit ich also zurückgehe, die Glassplitter sind zumindest verschwunden, niemand muss sich hinsetzen und sie mit einer Pinzette herausziehen.«
»Nein, aber wir«, sagt Gomez, und zupft behutsam Glas aus Charisses Haaren. Da hat er nicht ganz Unrecht.
SCIENCEFICTION IN DER BIBLIOTHEK
Mittwoch, 8. März 1995 (Henry ist 31)
Henry: Matt und ich spielen in der Sondersammlung im Magazin Verstecken. Er sucht nach mir, weil wir einen Vortrag über Kalligrafie vor einer Newberry-Kuratorin und ihrem Damenclub für schöne Schriften halten sollen. Ich verstecke mich vor ihm, weil ich mich vollständig anziehen möchte, bevor er mich findet.
»Komm schon, Henry, sie warten«, schimpft Matt irgendwo aus den Tiefen der >Frühen Amerikanischen Einblattdrucke<. Ich ziehe mir gerade die Hose in den >Livres d’artistes, 20. Jahrhundert an. »Eine Sekunde noch, ich will nur noch eine Sache finden«, rufe ich. Ich nehme mir vor, für Momente wie diesen Bauchreden zu lernen. Matts Stimme kommt näher. »Du weißt genau, dass Mrs Connelly Zustände kriegt«, sagt er. »Also vergiss es einfach, und lass uns jetzt gehen«. Er streckt den Kopf in meine Reihe, als ich mir gerade das Hemd zuknöpfe. »Was machst du denn da?«
»Bitte?«
»Bist du etwa wieder nackt im Magazin rumgerannt?«
»Vielleicht.« Ich bemühe mich um einen lässigen Tonfall.
»Mann, Henry. Gib mir den Wagen.« Matt packt den beladenen Bücherwagen und rollt ihn in Richtung Lesesaal. Die schwere Metalltür öffnet und schließt sich. Ich schlüpfe in Socken und Schuhe, binde mir die Krawatte, klopfe mein Jackett ab und ziehe es über. Dann gehe ich hinaus in den Lesesaal, stelle mich Matt gegenüber an den langen Tisch, der von reichen Damen mittleren Alters umringt ist, und fange an, einen Vortrag über die verschiedenen Buchschriften des genialen Schriftkünstlers Rudolf Koch zu halten. Matt legt Filze aus, öffnet Mappen, wirft intelligente Bemerkungen über Koch ein, und am Ende der Stunde habe ich den Eindruck, dass er mir diesmal vielleicht nicht gleich den Kopf abreißt. Die zufriedenen Damen zwitschern zum Mittagessen ab. Matt und ich gehen um den Tisch herum, packen die Bücher wieder in die Kartons und auf den Wagen.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät dran war«, sage ich.
»Wenn du nicht so brillant wärst«, erwidert Matt, »hätten wir dir längst das Fell gegerbt und damit Das Manifest der Nacktkultur neu eingebunden.«
»So ein Buch gibt es nicht.«
»Wetten?«
»Nein.« Wir rollen den Karren zurück ins Magazin und fangen an, die Portfolios und Bücher in die Regale zurückzustellen. Dann lade ich
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