Die Frau des Zeitreisenden
und Weihnachtsschmuck. Kimy spielt Solitaire, während wir uns unterhalten. Ich bewundere, wie sie mit geübter Hand mischt und dann schwungvoll rote Karten auf schwarze klatscht. Auf dem Herd köchelt ein Eintopf. Plötzlich dringt ein Geräusch aus dem Esszimmer, ein Stuhl fällt um. Kimy blickt auf, dreht sich um.
»Kimy«, flüstere ich. »Im Esszimmer sitzt ein kleiner Junge unterm Tisch.«
Jemand kichert. »Henry?«, ruft Kimy. Keine Antwort. Sie steht auf und stellt sich in die Tür. »Hey, Kumpel, Schluss damit. Zieh dir was an, Mister.« Kimy verschwindet im Esszimmer. Flüstern. Und wieder Kichern. Schweigen. Plötzlich starrt mich ein kleiner nackter Junge aus der Tür an, und verschwindet dann ebenso plötzlich wie er erschienen ist. Kimy kommt wieder herein, setzt sich an den Tisch und spielt weiter.
»Donnerwetter«, sage ich.
Kimy lächelt. »Das passiert heute nur noch selten. Meistens ist er erwachsen, wenn er kommt. Aber er besucht mich nicht mehr so oft wie früher.«
»Ich hab noch nie erlebt, wie er in die Zukunft reist.«
»Na ja, du hast ja auch noch nicht viel Zukunft mit ihm gehabt.«
Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was sie meint. Und als ich es begreife, frage ich mich, wie diese Zukunft aussehen wird, und dann stelle ich mir vor, wie die Zukunft sich ausdehnt und allmählich öffnet, bis Henry mich aus der Vergangenheit besuchen kann. Ich trinke meine Schokolade und blicke in Kimys winterlichen Garten hinaus.
»Fehlt er dir?«, frage ich sie.
»Ja, er fehlt mir. Aber jetzt ist er erwachsen. Wenn er als kleiner Junge erscheint, kommt er mir vor wie ein Geist, weißt du?« Ich nicke. Kimy beendet ihre Partie, packt die Karten zusammen und sieht mich lächelnd an. »Wann bekommt ihr zwei denn nun ein Baby?«
»Ich weiß nicht, Kimy. Ich bin nicht sicher, ob es geht.«
Sie steht auf, tritt an den Herd und rührt den Eintopf um. »Tja, das weiß man nie.«
»Stimmt.« Man weiß es nie.
Später liege ich mit Henry im Bett. Es schneit immer noch, die Heizung macht leise glucksende Geräusche. Ich drehe mich zu Henry um und er sieht mich an. »Komm«, sage ich zu ihm, »wir machen ein Kind.«
Montag, 11. März 1996 (Henry ist 32)
Henry: Ich habe Dr. Kendrick aufgespürt. Seine Praxis ist dem Universitätskrankenhaus in Chicago angeschlossen. Es ist ein fieser nasskalter Märztag. Eigentlich sollte der März eine Verbesserung gegenüber dem Februar darstellen, aber in Chicago ist darauf kein Verlass. Ich steige in die Illinois Central-Linie und setze mich mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Chicago rauscht an uns vorbei, und im Nu sind wir in der 59. Straße. Ich steige aus und kämpfe mich durch den Eisregen. Es ist 9 Uhr morgens, ein Montag. Alle sind in sich selbst zurückgezogen, wehren sich gegen die Rückkehr in die Arbeitswoche. Mir gefällt Hyde Park. Hier habe ich immer das Gefühl, als sei ich aus Chicago heraus- und in eine andere Stadt hineingefallen, Cambridge vielleicht. Die grauen Steinhäuser sind dunkel vom Regen, und von den Bäumen fallen dicke Eistropfen auf die Fußgänger. Ich empfinde die tiefe Gelassenheit des Fait accompli: Es wird mir gelingen, Kendrick zu überzeugen, auch wenn ich viele andere Ärzte nicht überzeugen konnte, denn ja, ich überzeuge ihn. Kendrick wird mein Arzt, weil er in der Zukunft mein Arzt ist.
Ich betrete ein kleines, Mies van der Rohe nachempfundenes Gebäude neben dem Krankenhaus. Dann fahre ich mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, öffne die Glastür mit dem goldenen Schriftzug Drs. C. P. Sloane und D. L. Kendrick, melde mich bei der Dame am Empfang an und setze mich auf einen der tiefen lavendelfarbenen Polsterstühle. Das Wartezimmer ist Rosa und Violett gehalten, vermutlich um die Patienten zu beruhigen. Dr. Kendrick ist Genetiker und nicht zufällig auch Philosoph. Letzteres, überlege ich, ist sicherlich von Nutzen, um mit den harten, praktischen Tatsachen des Ersteren fertig zu werden. Heute sitzt außer mir niemand hier. Ich bin zehn Minuten zu früh. Die Tapete hat breite Streifen in Pink und beißt sich mit dem Gemälde einer vorwiegend in Braun- und Grüntönen gezeichneten Wassermühle. Die Möbel sind pseudokolonial, aber der Teppich ist recht schön, eine Art weicher Perser, und es tut mir irgendwie Leid für ihn, dass er in diesem scheußlichen Wartezimmer gefangen ist. Die Empfangsdame ist eine freundlich aussehende Frau mittleren Alters mit sehr tiefen Falten vom jahrelangen Sonnenbräunen, auch
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