Die Frau des Zeitreisenden
versetze Kinder in Staunen. Ich bin ein Trick, eine Illusion höchsten Grades, so unglaublich, dass ich schon wieder wahr bin.
Ob all diesem Kommen und Gehen, diesen vielen Verschiebungen eine Logik, eine Regel zugrunde liegt? Ob es eine Methode gibt, hier zu bleiben und die Gegenwart mit jeder Faser anzunehmen? Ich weiß es nicht. Aber es gibt Hinweise; wie bei jeder Krankheit gibt es Muster und Möglichkeiten. Erschöpfung, Krach, Stress, plötzliches Aufstehen, blinkende Lichter - jedes davon kann eine Episode auslösen. Aber: Ich kann auch mit einem Kaffee in der Hand die Sunday Times lesen, während Clare neben mir auf dem Bett döst, und plötzlich bin ich im Jahr 1976 und sehe mich als Dreizehnjährigen den Rasen meiner Großeltern mähen. Manchmal dauern diese Episoden nur Sekunden; es ist, als höre man einem Autoradio zu, bei dem ständig der Sender verrutscht. Ich finde mich unter Menschenmengen, Zuschauern, irgendwelchen Horden wieder. Aber ebenso oft bin ich allein, auf einem Feld, in einem Haus oder Auto, an einem Strand, in einer Schule mitten in der Nacht. Ich habe Angst, mich im Gefängnis wiederzufinden, in einem Aufzug voller Menschen, mitten auf einer Straße. Ich erscheine wie aus dem Nichts und bin nackt. Wie soll ich das erklären? Mir ist es nie gelungen, etwas mitzunehmen. Keine Kleider, kein Geld, keinen Ausweis. Den Großteil meiner Ausflüge verbringe ich damit, mir Kleidung zu besorgen und mich zu verstecken. Zum Glück trage ich keine Brille.
Eigentlich ist es absurd, denn am wohlsten fühle ich mich zu Hause: in einem gemütlichen Sessel, umgeben von den bescheidenen Freuden des häuslichen Lebens. Ich will nur ein klein wenig Glück. Ein Krimi im Bett, der Duft von Clares langem rotblondem Haar, noch feucht vom Waschen, eine Urlaubspostkarte von einem Freund, Sahnewolken im Kaffee, die weiche Haut unter Clares Brüsten, die Symmetrie von noch nicht ausgepackten Einkaufstüten auf der Küchentheke. Ich schlendere unheimlich gern durchs Magazin in der Bibliothek, wenn die Leser nach Hause gegangen sind, und berühre zärtlich die Buchrücken. Das sind die Dinge, die ich schmerzlich vermisse, wenn sie mir durch die Launen der Zeit entzogen sind.
Und Clare, immer wieder Clare. Clare am Morgen, schläfrig und mit zerknittertem Gesicht. Clare beim Papier schöpfen, wenn sie die Arme in die Wanne taucht, die Schöpfform herauszieht und hin und her bewegt, damit die Fasern sich vermischen. Clare beim Lesen, wenn ihre Haare über die Stuhllehne fallen und sie sich vor dem Schlafengehen Salbe in die rissigen roten Hände massiert. Clares leise Stimme ist mir oft im Ohr.
Ich finde es schrecklich, fort zu sein, an einem Ort ohne sie, in einer Zeit ohne sie. Aber immer wieder muss ich gehen, und sie kann nicht mitkommen.
I - EIN MANN FÄLLT AUS DER ZEIT
Oh, nicht , weil Glück ist,
dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts.
Aber weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
Alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende das
Seltsam uns angeht. Uns, die Schwindensten.
Ach, in den ändern Bezug,
wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier
langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.
Also die Schmerzen. Also vor allem das Schwersein,
also der Liebe lange Erfahrung, - also
lauter Unsägliches.
Aus der neunten Duineser Elegie ,
Rainer Maria Rilke
ERSTE BEGEGNUNG, EINS
Samstag, 26. Oktober 1991 (Henry ist 28, Clare 20)
Clare: In der Bibliothek ist es kühl, es riecht nach Teppichreiniger, auch wenn ich nur Marmor sehe. Ich trage mich ins Besucherbuch ein: Clare Abshire, 11.15 Uhr, 26.10.91, Sondersammlung. Ich war noch nie in der Newberry Library und bin, nachdem ich nun den dunklen, ominösen Eingang passiert habe, ganz aufgeregt. Irgendwie fühle ich mich wie am ersten Weihnachtstag vor der Bescherung, die Bibliothek ist eine riesige Schachtel voll wunderschöner Bücher. Der schwach beleuchtete Aufzug fährt fast geräuschlos. Im zweiten Stock steige ich aus, fülle den Antrag für einen Leserausweis aus und gehe anschließend nach oben zur Sondersammlung. Meine Stiefelabsätze knallen auf dem Holzboden. In dem ruhigen, gut besuchten Raum stehen massive, schwere Tische, an denen Menschen sitzen, vor denen sich Bücher stapeln. Das morgendliche Herbstlicht von Chicago fällt durch die hohen Fenster. Ich gehe zum Informationstisch und hole mir einen Packen Bücherbestellzettel. Ich schreibe eine Diplomarbeit in
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