Die Frau des Zeitreisenden
jetzt, mitten im März in Chicago, ist sie braun gebrannt.
Um 9.35 Uhr höre ich Stimmen auf dem Flur, und eine blonde Frau kommt mit einem kleinen Jungen, der in einem schmalen Rollstuhl sitzt, ins Wartezimmer. Der Junge scheint unter Gehirnlähmung oder etwas Ähnlichem zu leiden. Die Frau lächelt mir zu, ich lächle zurück. Als sie sich umdreht, sehe ich, dass sie schwanger ist. Die Empfangsdame sagt: »Sie können jetzt hineingehen, Mr De-Tamble.« Im Vorbeigehen lächle ich den Jungen an. Seine riesigen Augen nehmen mich auf, aber er lächelt nicht zurück.
Dr. Kendrick macht sich Notizen in einer Akte, als ich in sein Sprechzimmer trete. Ich setze mich, und er schreibt weiter. Er ist jünger, als ich angenommen hatte, Ende dreißig. In meiner Vorstellung sind Ärzte immer alte Männer. Ich kann nichts dafür, es ist ein Überbleibsel aus einer Kindheit mit endlos vielen Medizinern. Kendrick hat rote Haare, ein schmales Gesicht mit Bart und eine dicke Nickelbrille. Ein bisschen sieht er aus wie D. H. Lawrence. Er trägt einen schönen schwarzgrauen Anzug und eine schmale dunkelgrüne Krawatte mit einer Anstecknadel in Form einer Regenbogenforelle. Vor ihm steht ein überquellender Aschenbecher. Obwohl Dr. Kendrick im Moment nicht raucht, ist der Raum von Zigarettenqualm erfüllt. Alles ist sehr modern: Stahlrohr, beiger Köper, helles Holz. Er blickt zu mir auf und lächelt.
»Guten Morgen, Mr DeTamble. Was kann ich für Sie tun?« Er schaut auf seinen Kalender. »Ich habe hier keine weiteren Daten über Sie. Wo liegt Ihr Problem?«
»Dasein.«
Kendrick ist verblüfft. »Dasein? Leben? Wie meinen Sie das?«
»Ich leide an einer Krankheit, die man einmal, wie ich gehört habe, als Chrono-Syndrom bezeichnen wird. Ich habe Schwierigkeiten, in der Gegenwart zu bleiben.«
»Bitte?«
»Ich reise durch die Zeit. Unfreiwillig.«
Kendrick ist nervös, unterdrückt es aber. Ich mag ihn. Er bemüht sich, mich so zu behandeln, wie es einer geistig gesunden Person angemessen wäre, obwohl ich sicher bin, er überlegt, an welchen seiner befreundeten Psychiater er mich überweisen könnte.
»Aber warum brauchen Sie einen Genetiker? Oder suchen Sie meinen Rat als Philosoph?«
»Es ist eine Erbkrankheit. Obwohl es gewiss nett ist, jemand zu haben, mit dem man über die größeren Implikationen des Problems plaudern kann.«
»Mr DeTamble. Sie scheinen mir ein intelligenter Mann zu sein... Von dieser Krankheit habe ich noch nie gehört. Ich kann nichts für Sie tun.«
»Sie glauben mir nicht.«
»Stimmt. Ich glaube Ihnen nicht.«
Jetzt lächle ich betrübt. Mir ist absolut unwohl bei dieser Sache, aber es muss sein. »Nun. Ich bin in meinem Leben schon bei ziemlich vielen Ärzten gewesen, aber heute habe ich zum ersten Mal so etwas wie einen Beweis anzubieten. Natürlich glaubt man mir nie. Sie und Ihre Frau erwarten ein Kind im nächsten Monat?«
Er ist auf der Hut. »Ja. Woher wissen Sie das?«
»In einigen Jahren suche ich die Geburtsurkunde ihres Kindes heraus. Ich reise in die Vergangenheit meiner Frau, ich hinterlege die Information in diesem Kuvert. Sie gibt es mir, wenn wir uns in der Gegenwart treffen. Nun gebe ich es Ihnen. Öffnen Sie den Umschlag, nachdem Ihr Sohn geboren ist.«
»Wir bekommen eine Tochter.«
»Nein, eigentlich nicht«, sage ich freundlich. »Aber lassen Sie uns darüber nicht streiten. Bewahren Sie den Umschlag auf, öffnen Sie ihn nach der Geburt des Kindes. Werfen Sie ihn nicht weg. Wenn Sie es gelesen haben, rufen Sie mich an, wenn Sie möchten.« Ich stehe auf und will gehen. »Viel Glück«, sage ich, obwohl ich dieser Tage nicht an Glück glaube. Er tut mir zutiefst Leid, aber mir bleibt keine andere Wahl.
»Auf Wiedersehen, Mr DeTamble«, sagt Dr. Kendrick kalt. Ich gehe. Im Fahrstuhl denke ich, dass er den Umschlag wahrscheinlich gerade öffnet. Er enthält ein mit Schreibmaschine beschriebenes Blatt Papier, auf dem steht:
Colin Joseph Kendrick 6. April 1996,1.18 Uhr 2947 Gramm, männlich, weiß Down-Syndrom
Samstag, 6. April 1996,5.32 Uhr (Henry ist 32, Clare 24)
Henry: Wir schlafen ineinander verknäuelt. Die ganze Nacht haben wir wach gelegen, uns unruhig gewälzt, sind aufgestanden und wieder ins Bett gegangen. Das Baby der Kendricks wurde heute in den frühen Morgenstunden geboren. Gleich wird das Telefon klingeln. Es klingelt schon. Das Telefon steht auf Clares Bettseite. Sie hebt ab. »Hallo«, sagt sie sehr ruhig und übergibt mir den Hörer.
»Woher
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