Die Frau des Zeitreisenden
Ich strecke den Kopf in die Küche und da ist Nell. Sie rührt etwas in einem Topf und hört auch nicht auf, als ich die Arme um sie schlinge und sie leicht vom Boden hebe. »Huii!«, sagt sie. »Da hat aber jemand sein Müsli gegessen!« Clare umarmt Nell, sie lächeln sich an. »Er sieht ziemlich überrascht aus«, sagt Nell, und Clare lächelt noch strahlender. »Jetzt setzt euch hin«, befiehlt Nell. »Das Essen ist fertig.«
Wir setzen uns gegenüber an den Tisch. Lourdes bringt kleine Teller mit wunderbar arrangierten Antipasti: Hauchdünner Schinken mit hellgelben Melonen, Muscheln, die mild und rauchig sind, schmale Streifen von Karotten und Rote Bete, die nach Fenchel und Olivenöl schmecken. Clares Haut strahlt im Kerzenlicht, ihre Augen werfen Schatten. Sie trägt eine Perlenkette, die ihr Schlüsselbein und die blasse zarte Stelle über ihren Brüsten betont, die sich bei jedem Atemzug heben und senken. Als Clare mich ertappt, wie ich sie anstarre, lächelt sie und schaut weg. Ich senke den Blick und merke, dass ich meine Muscheln aufgegessen habe und die Gabel in der Luft halte wie ein Idiot. Ich lege sie hin; Lourdes holt unsere Teller und bringt den nächsten Gang.
Wir essen Nells traumhaften Thunfisch, gedünstet in einer Sauce aus Tomaten, Äpfeln und Basilikum. Es gibt einen kleinen Salat mit Radicchio und orangefarbenem Paprika, dazu kleine braune Oliven, die mich an ein Essen mit meiner Mutter in einem Hotel in Athen erinnern, als ich noch sehr klein war. Wir trinken einen Sauvignon Blanc, stoßen mehrmals an. (»Auf Oliven!«
»Auf Babysitter!«
»Auf Nell!«) Nell erscheint aus der Küche und trägt einen kleinen flachen weißen Kuchen mit lodernden Kerzen. Dann singen Clare, Nell und Lourdes »Happy Birthday« für mich. Ich wünsche mir etwas und blase in einem Atemzug die Kerzen aus. »Jetzt geht dein Wunsch in Erfüllung«, sagt Nell, nur gehört mein Wunsch nicht zu denen, die man erfüllen kann. Die Vögel unterhalten sich mit sonderbaren Stimmen, und wir essen alle Kuchen, dann verschwinden Lourdes und Nell wieder in die Küche. Clare sagt: »Ich hab ein Geschenk für dich. Schließ die Augen.« Ich schließe die Augen und höre, wie Clare den Stuhl vom Tisch zurückschiebt und durchs Zimmer geht. Dann folgt das Geräusch einer Nadel, die auf Vinyl trifft... ein Rauschen... Geigen ... ein reiner Sopran, der den Lärm des Orchesters wie lauter Regen durchdringt ... die Stimme meiner Mutter, sie singt Lulu. Ich öffne die Augen. Clare sitzt mir gegenüber am Tisch und lächelt. Ich stehe auf, ziehe sie vom Stuhl hoch, umarme sie. »Unglaublich«, sage ich, und dann kann ich nicht fortfahren, also küsse ich sie.
Viel später, nachdem wir uns von Nell und Lourdes verabschiedet und tränenreich unsere Dankbarkeit bekundet haben, nachdem wir nach Hause gefahren sind und die Babysitterin bezahlt haben, nachdem wir uns wie in Trance vor erschöpfter Freude geliebt haben und kurz vorm Einschlafen im Bett liegen, fragt mich Clare: »War es ein schöner Geburtstag?«
»Ja, er war phantastisch. Mein bisher schönster.«
»Wünschst du dir manchmal, du könntest die Zeit anhalten?«, fragt Clare. »Ich hätte nichts dagegen, ewig hier zu sein.«
»Mmm«, sage ich und wälze mich auf den Bauch. Ich bin fast eingenickt, als Clare sagt: »Mir ist, als wären wir am höchsten Punkt einer Achterbahnfahrt«, aber da schlafe ich schon halb und am nächsten Morgen vergesse ich, sie zu fragen, was sie damit meint.
EINE UNERFREULICHE SZENE
Mittwoch, 28. Juni 2006 (Henry ist 43 und 43)
Henry: Ich erlange im Dunkeln auf einem kalten Betonboden das Bewusstsein. Ich will mich aufsetzen, aber mir wird schwindlig, also lege ich mich wieder hin. Mein Kopf tut weh. Ich taste mich mit den Händen ab; unmittelbar hinter dem linken Ohr ist eine große geschwollene Stelle. Kaum haben meine Augen sich angepasst, sehe ich die schwachen Umrisse von Treppen und EXIT-Zeichen, und hoch über mir erstrahlt eine einsame Neonbirne in kaltem Licht. Um mich herum ist das geflochtene Drahtkreuzmuster des Stahlkäfigs. Ich bin in der Newberry, nach der Öffnungszeit, im Inneren des Käfigs.
»Keine Panik«, rede ich mir laut ein. »Schon gut, schon gut, schon gut.« Ich höre auf, als ich merke, dass ich mir gar nicht zuhöre. Mühsam komme ich auf die Füße. Ich zittere. Ich frage mich, wie lange ich wohl warten muss. Ich frage mich, was meine Kollegen sagen werden, wenn sie mich sehen. Denn jetzt ist es so weit. Ich
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