Die Frau des Zeitreisenden
Ehren meines Geburtstags, eine gründliche Bestandsaufnahme.
Meine Haare sind fast weiß geworden, nur an den Schläfen ist noch ein schwarzer Rest geblieben und die Augenbrauen sind noch vollkommen schwarz. Ich habe mir die Haare wieder etwas wachsen lassen, nicht so lang wie früher, bevor ich Clare traf, aber auch nicht ganz kurz. Meine Haut ist vom Wind rau geworden, an den Augenrändern und auf der Stirn habe ich Falten, und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln ziehen sich Linien. Mein Gesicht ist zu dünn. Alles an mir ist zu dünn. Nicht auschwitzdünn, aber auch nicht normaldünn. Dünn wie im frühen Krebsstadium vielleicht. Heroinsüchtigdünn. Aber daran will ich gar nicht denken, also fahre ich fort mit meiner Rasur. Dann spüle ich mir das Gesicht ab, trage Rasierwasser auf, trete einen Schritt zurück und begutachte das Ergebnis.
In der Bibliothek erinnerte sich gestern jemand daran, dass ich Geburtstag habe, und dann kamen Roberto, Isabelle, Matt, Catherine und Amelie und führten mich im Beau Thai zum Mittagessen aus. Mir ist klar, dass bei der Arbeit über meine Gesundheit geredet wird, darüber, warum ich plötzlich so stark abgenommen habe und dass ich in jüngster Zeit so rapide gealtert bin. Alle waren besonders nett zu mir, wie Leute es gegenüber Aids-Opfern und Chemotherapie-Patienten eben sind. Ich sehne mich schon beinahe danach, dass jemand mich einfach fragt, damit ich ihn anlügen und es hinter mich bringen kann. Doch stattdessen haben wir gescherzt, Pad Thai und Prik King, Cashew Chicken und Pad Seeuw gegessen. Amelia hat mir ein Pfund hervorragenden kolumbianischen Kaffee geschenkt. Catherine, Matt, Roberto und Isabelle haben sich in Unkosten gestürzt und mir die Getty-Faksimile der Mira Calligraphiae Monumenta gekauft, auf die ich im Buchladen der Newberry schon ewig ein Auge geworfen hatte. Tief gerührt blickte ich zu meinen Kollegen auf und erkannte, dass sie glauben, ich werde bald sterben. »Also, liebe Leute...«, setzte ich an, und dann fiel mir nicht ein, wie ich fortfahren sollte, also beließ ich es dabei. Es kommt nicht oft vor, dass mir die Worte fehlen.
Clare steht auf, Alba wacht auf. Wir ziehen uns alle an und packen das Auto. Wir gehen mit Gomez, Charisse und deren Kindern in den Brookfield Zoo. Den ganzen Tag schlendern wir herum, sehen uns Affen und Flamingos an, Eisbären und Otter. Alba mag am liebsten die großen Raubkatzen. Rosa hält Alba an der Hand und erzählt ihr von Dinosauriern. Gomez gibt eine hervorragende Imitation von einem Schimpansen, und Max und Joe toben herum und tun so, als wären sie Elefanten und spielen Videospiele. Charisse und Clare streifen ziellos umher, reden über nichts, saugen das Sonnenlicht ein. Um vier sind die Kinder alle müde und knatschig, so dass wir sie in die Autos packen, ihnen versprechen, den Zoobesuch bald zu wiederholen, und nach Hause fahren.
Unsere Babysitterin kommt pünktlich um sieben. Clare besticht und droht Alba, damit sie brav ist, und wir entfliehen. Auf Clares beharrlichen Wunsch hin haben wir uns in Schale geworfen, und als wir am Lake Shore Drive in Richtung Süden entlangsausen, merke ich, dass ich gar nicht weiß, wohin wir fahren. »Du wirst schon sehen«, sagt Clare. »Aber es ist hoffentlich keine Überraschungsparty?«, frage ich sie verzagt. Mitnichten, versichert sie mir, verlässt den Drive an der Ausfahrt Roosevelt und schlängelt sich durch Pilsen, ein Latino-Viertel gleich südlich des Zentrums. Auf den Straßen spielen Kinder, die wir vorsichtig umfahren, und schließlich parken wir in der Nähe 20. Straße Ecke Racine. Clare führt mich zu einem baufälligen Zweifamilienhaus und klingelt am Eingang. Wir werden summend eingelassen, gehen über den müllübersäten Hof und eine gefährliche Treppe nach oben. Clare klopft an eine der Türen, die von Lourdes, einer ihrer Freundinnen aus der Kunstschule, geöffnet wird. Lourdes lächelt, bittet uns herein, und als wir eintreten, sehe ich, dass das Zimmer in ein Restaurant mit nur einem Tisch umgewandelt worden ist. Herrliche Düfte durchziehen den Raum, und der Tisch ist mit weißem Damast, Porzellan und Kerzen geschmückt. Auf einem schweren geschnitzten Büfett steht ein Plattenspieler. Im Wohnzimmer sind Käfige voller Vögel: Papageien, Kanarienvögel, winzige Turteltauben. Lourdes küsst mich auf die Wange und sagt: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Henry«, und eine altbekannte Stimme sagt: » Ja, alles Gute zum Geburtstag!«
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