Die Frau des Zeitreisenden
stehen, auf meinen eigenen zwei Füßen, zu laufen, laufen wie fliegen. Die Träume vom Schweben, vom Fliegen, als sei die Schwerkraft aufgehoben worden und gestatte mir nun, mich in sichere Entfernung von der Erde zu begeben, diese Träume kehren im halbdunklen Atelier zu mir zurück. Clare setzt sich neben mich. Die Flügel sind stumm, ihre Ränder zerzaust. Ich kann nicht sprechen. Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft/ werden weniger... Überzähliges Dasein/ entspringt mir im Herzen.
»Küss mich«, sagt Clare, und ich wende mich zu ihr, weißes Gesicht und dunkle Lippen schweben im Dunkeln, und ich tauche unter, ich fliege, ich bin frei: Dasein entspringt mir im Herzen.
FUSSTRÄUME
Oktober/November 2006 (Henry ist 43)
Henry: Ich träume, dass ich in der Newberry bin und einigen Absolventen des Columbia College einen Teil der Sondersammlungen präsentiere. Ich zeige ihnen die Inkunabeln, erste gedruckte Bücher. Ich stelle ihnen das Gutenberg-Fragment vor, William Caxtons Game and Play of Chess, den Eusebius von Nicolas Jenson. Alles läuft gut, sie stellen kluge Fragen. Ich wühle auf dem Wagen herum und suche ein bestimmtes Buch, das ich gerade im Magazin entdeckt habe, ein Werk, von dem ich nicht wusste, dass wir es besitzen. Es steckt in einer schweren roten Schachtel. Ohne Titel, nur die Standortnummer, CASE WING f ZX 983.D 453, die in Gold unter die Insignien der Newberry geprägt ist. Ich stelle die Schachtel auf den Tisch, breite die Polster aus, öffne den Deckel, und da sind sie, meine rosigen makellosen Füße. Sie sind erstaunlich schwer. Als ich sie auf die Polster stelle, wackeln alle Zehen, sie sagen Hallo, wollen mir zeigen, dass sie es noch können. Ich halte einen kleinen Vortrag über sie, erkläre die Relevanz meiner Füße für die venezianische Buchdruckkunst des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Studenten machen sich Notizen. Eine von ihnen, eine hübsche Blondine in einem mit Pailletten besetzten trägerlosen Top, zeigt auf meine Füße und sagt: »Da, die sind ja ganz weiß!« Und es stimmt, die Haut ist totenweiß geworden, die Füße sind leblos und faulig. Ich nehme mir vor, sie gleich morgen zur Konservierung hochzuschicken.
Im Traum renne ich. Alles ist gut. Ich renne am See entlang, vom Oak Street Beach in Richtung Norden. Ich spüre, wie mein Herz klopft, wie meine Lungen sich leicht ausdehnen und senken. Ich komme gut voran. Was für eine Erleichterung, denke ich mir. Ich hatte schon Angst, nie wieder laufen zu können, aber wie man sieht, ich laufe. Ein großartiges Gefühl.
Dann aber wird alles zunehmend schlechter. Teile meines Körpers fallen ab. Erst mein linker Arm. Ich bleibe stehen und hebe ihn auf, wische den Sand ab und setze ihn wieder an, aber er ist nicht gut befestigt und schon nach achthundert Metern fällt er wieder herunter. Ich trage ihn also mit meinem anderen Arm und sage mir, wenn ich damit nach Hause komme, kann ich ihn besser befestigen. Aber dann fällt auch der zweite Arm ab, und nun bleibt mir nichts, um die verlorenen Arme aufzuheben. Also laufe ich einfach weiter. So schlimm ist es gar nicht, es tut auch nicht weh. Bald merke ich, dass sich mein Schwanz gelöst hat und ins rechte Bein meiner Trainingshose gefallen ist, wo er störend herumschlackert, gefangen vom Gummiband unten. Aber ich kann nichts ändern, also ignoriere ich es. Und dann spüre ich, wie meine Füße in den Schuhen rissig werden wie Straßenbelag, und dann brechen sie beide an den Knöcheln ab und ich falle mit dem Gesicht nach unten auf den Weg. Mir ist klar, dass andere Läufer über mich hinwegtrampeln werden, also bewege ich mich rollend fort. Ich rolle immer weiter, bis ich im See lande und die Wellen mich nach unten spülen und ich nach Luft schnappend aufwache.
Ich träume, dass ich beim Ballett bin. Ich bin die Primaballerina, sitze in meiner Garderobe und werde von Barbara, der Garderobiere meiner Mutter, in rosa Tüll eingehüllt. Barbara ist ein zäher Brocken, darum beklage ich mich nicht, als sie mir vorsichtig lange rosa Spitzenschuhe aus Satin über die Stümpfe zieht, obwohl es wahnsinnig wehtut. Als sie fertig ist, erhebe ich mich schwankend vom Stuhl und schreie auf. »Stell dich nicht so an«, sagt Barbara, hat dann aber Mitleid und gibt mir eine Morphiumspritze. Onkel Ish erscheint in der Garderobentür, und wir eilen hinter der Bühne durch endlose Gänge. Ich weiß, dass meine Füße wehtun, auch wenn ich sie weder sehen noch fühlen kann.
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