Die Frau des Zeitreisenden
Retentionsmittel, Ton und Pigment hinzu. Die beigefarbene Pulpe färbt sich zu einem tiefdunklen Erdrot. Ich lasse sie in Eimer abtropfen und gieße sie in die wartende Schöpfwanne. Dann gehe ich hinüber ins Haus; Kimy ist in der Küche und kocht.
»Wie ist es gelaufen?«, frage ich sie.
»Sehr gut. Er ist im Wohnzimmer.« Zwischen Bad und Wohnzimmer verläuft eine Wasserspur in Form von Kimys Fußabdrücken. Henry schläft auf dem Sofa, auf seiner Brust liegt ein aufgeschlagenes Buch. Borges’ Fiktionen. Er ist rasiert, und ich beuge mich über ihn und atme seinen Duft ein; er riecht frisch, sein feuchtes graues Haar steht struppig ab. Alba plaudert in ihrem Zimmer mit Teddy. Einen Augenblick habe ich das Gefühl, als wäre ich durch die Zeit gereist, als wäre dies ein seltener Moment von vorher, doch dann wandern meine Augen über Henrys Körper zum flachen Ende der Decke, und ich weiß wieder, ich bin im Hier und Jetzt.
Am nächsten Morgen regnet es. In meinem Atelier erwarten mich die Drahtflügel, sie schweben im grauen Morgenlicht. Ich schalte das Radio ein: Chopin läuft, rollende Etüden wie Wasser über Sand. Ich ziehe Gummistiefel an, ein Bandana, damit meine Haare nicht in die Pulpe hängen, eine Gummischürze. Dann spritze ich meine liebsten Sieb- und Deckelrahmen aus Teakholz und Messing ab, decke die Schöpfwanne ab und lege eine Filzunterlage bereit, um das Papier darauf abzugautschen. Ich fasse in die Wanne und rühre den dunkelroten Brei um, damit Fasern und Wasser sich vermischen. Alles tropft. Danach tauche ich Schöpfform mit Deckelrahmen in die Pulpe, hole sie vorsichtig hoch, vollkommen waagrecht, das Wasser strömt. Anschließend setze ich die Schöpfform auf die Wannenecke, und das Wasser läuft ab und hinterlässt auf der Oberfläche eine Faserschicht; ich entferne den Deckelrahmen und presse den Siebrahmen auf den Filz, bewege ihn sanft hin und her, nehme ihn weg, und das Papier bleibt fein und glänzend auf der Unterlage. Ich lege einen weiteren Filz darüber, befeuchte ihn und beginne von vorn: Schöpfform eintauchen, hochziehen, abtropfen lassen, abgautschen. Ich verliere mich in der Wiederholung, und die Klaviermusik perlt über das schwappende, tropfende, rieselnde Wasser. Nachdem ich einen Stapel Papier und Filz zusammen habe, presse ich alles in der hydraulischen Papierpresse. Dann gehe ich ins Haus zurück und esse ein Schinkensandwich. Henry liest. Alba ist in der Schule.
Nach dem Mittagessen stehe ich mit meinem frisch geschöpften Papier vor den Flügeln. Ich will den Draht mit einer Papiermembran verhängen. Das Papier ist feucht und dunkel und immer kurz vorm Reißen, aber es schmiegt sich wie eine zweite Haut über die Drahtformen. Ich zwirble das Papier zu Sehnen und Kordeln, die sich drehen und verbinden. Die Flügel sind nun Fledermausflügel, das Drahtgeflecht ist unter der dünnen Papierfläche sichtbar. Das nicht benutzte Papier trockne ich, indem ich es auf Stahlplatten erhitze. Dann reiße ich es in Streifen und Federn, die ich, sobald die Flügel trocken sind, annähen werde. Zuvor aber male ich die Streifen schwarz, grau und rot an. Gefieder für den schrecklichen Engel, für den tödlichen Vogel.
Henry: Clare hat mich dazu überredet, mich anzuziehen, und Gomez hat sie gebeten, mich durch die hintere Tür über den Hof in ihr Atelier zu tragen. Es ist von Kerzen erleuchtet, wahrscheinlich Hunderten, wenn nicht noch mehr, auf Tischen, auf dem Fußboden und den Fenstersimsen. Gomez setzt mich auf dem Sofa ab und zieht sich wieder ins Haus zurück. In der Mitte des Ateliers hängt ein weißes Laken von der Decke, und ich sehe mich um, ob irgendwo ein Projektor steht, aber da ist keiner. Clare trägt ein dunkles Kleid, und wenn sie sich im Raum bewegt, wirken ihr Gesicht und die Hände weiß und geisterhaft.
»Möchtest du Kaffee?«, fragt sie mich. Den Letzten habe ich getrunken, bevor ich ins Krankenhaus kam. »Klar«, entgegne ich. Sie schenkt zwei Becher ein, fügt Sahne hinzu und bringt mir einen. Der heiße Becher fühlt sich vertraut und gut in der Hand an. »Ich hab was für dich gemacht«, sagt Clare.
»Füße? Zwei Füße könnte ich gebrauchen.«
»Flügel«, sagt sie und lässt das weiße Laken zu Boden sinken.
Die Flügel sind riesig und schweben in der Luft, wabern im Kerzenlicht. Sie scheinen dunkler als die Dunkelheit, bedrohlich, aber sie gemahnen auch an Sehnsucht, an Freiheit, an Sturzflüge durch den Raum. An das Gefühl fest zu
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