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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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selben Moment:
     
    Henry: Meine Mutter sitzt am Fußende des Bettes. Ich will nicht, dass sie die Sache mit meinen Füßen erfährt. Ich schließe die Augen und stelle mich schlafend.
    »Henry?«, sagt sie. »Ich weiß, du bist wach. Komm schon, Kumpel, raus aus den Federn.«
    Ich öffne die Augen. Es ist Kimy. »Morgen.«
    »Es ist halb drei nachmittags. Du solltest langsam aufstehen.«
    »Ich kann nicht aufstehen, Kimy. Ich habe keine Füße.«
    »Aber einen Rollstuhl«, sagt sie. »Komm schon, du musst baden, du musst dich rasieren, pfui, du riechst wie ein alter Mann.« Kimy steht auf und sieht sehr streng aus. Sie schlägt die Decke zurück und da liege ich, kalt und kraftlos im Licht der Nachmittagssonne, wie eine geschälte Garnele. Kimy blickt mich drohend an, bis ich endlich im Rollstuhl sitze, und schiebt mich dann zur Badezimmertür, die zu eng ist, um durchzufahren.
    »Na schön«, sagt Kimy, vor mir stehend, die Hände in die Hüften gestützt. »Wie wollen wir das anstellen, hm?«
    »Ich weiß nicht, Kimy. Ich bin nur der Gimp, das hier ist nicht mein Wirkungskreis.«
    »Was ist das für ein Wort, Gimp?«
    »Das ist ein sehr abschätziges Wort für Krüppel.«
    Kimy sieht mich an, als wäre ich acht und hätte das Wort ficken in ihrer Anwesenheit benutzt (ich wusste nicht, was es heißt, nur, dass es verboten war). »Das müsste eigentlich behindert heißen, Henry.« Sie beugt sich heran und knöpft mir die Schlafanzugjacke auf.
    »Hände hab ich selbst«, sage ich und öffne die restlichen Knöpfe allein. Brummend macht Kimy auf dem Absatz kehrt und dreht den Wasserhahn auf, stellt die Temperatur ein, steckt den Stöpsel in den Abfluss. Dann wühlt sie im Arzneischränkchen herum, holt mein Rasiermesser, Rasierseife, den Biberhaarpinsel. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich aus dem Rollstuhl kommen soll. Mir fällt ein, dass ich versuchen könnte, vom Sitz zu rutschen; ich schiebe den Hintern nach vorn, wölbe den Rücken und gleite zu Boden. Im Fallen verrenke ich mir die Schulter und schlage mit dem Po auf, aber es ist nicht allzu schlimm. Meine Physiotherapeutin im Krankenhaus, eine ermutigende junge Frau namens Penny Featherwight, zeigte mir mehrere Techniken, wie ich in den Stuhl hinein- und wieder herauskomme, aber es ging immer nur um den Weg vom Stuhl ins Bett oder vom Stuhl auf einen anderen Stuhl. Nun sitze ich auf dem Boden, und die Badewanne ragt über mir auf wie die weißen Klippen von Dover. Ich sehe zu Kimy hoch, zweiundachtzig Jahre alt, und mir wird klar, dass ich hier allein auf mich gestellt bin. Sie schaut mich an, ihr Blick ist voll unendlichem Mitleid. Ich sage mir verdammt, irgendwie muss ich das schaffen, ich kann nicht zulassen, dass Kimy mich so ansieht. Ich winde mich aus meiner Schlafanzughose und nehme langsam die Wickelbandage ab, die die Mullauflagen auf meinen Beinen bedeckt. Kimy begutachtet ihre Zähne im Spiegel. Ich lege einen Arm über den Badewannenrand und teste das Wasser.
    »Wenn du noch ein paar Kräuter reinwirfst, kannst du heute Abend Gimpbrühe essen.«
    »Zu heiß?«, fragt Kimy.
    »Ja.«
    Kimy reguliert die Wasserhähne und geht, nachdem sie den Rollstuhl aus dem Weg geschoben hat, aus dem Bad. Behutsam entferne ich die Mullauflage vom rechten Bein. Die Haut darunter ist fahl und kalt. Ich lege die Hand auf den übereinander gefalteten Teil, auf das Fleisch, das den Knochen schützt. Vor einiger Zeit hatte ich eine Vicodin genommen. Ich überlege, ob ich noch eine nehmen könnte, ohne dass Clare es merkt. Das Fläschchen steht wahrscheinlich oben im Arzneischrank. Kimy kommt mit einem Küchenstuhl zurück und stellt ihn neben mir ab. Ich entferne den Verband vom anderen Bein.
    »Sie hat gute Arbeit geleistet«, sagt Kimy.
    »Dr. Murray? Ja, eine gewaltige Verbesserung, viel aerodynamischer.«
    Kimy lacht, und ich schicke sie in die Küche, um Telefonbücher zu holen. Kaum hat sie sie neben den Stuhl gelegt, stemme ich mich hoch und setze mich darauf. Dann arbeite ich mich weiter auf den Stuhl und lande halb fallend, halb rollend in der Badewanne. Eine riesige Wasserwelle schwappt aus der Wanne auf die Kacheln. Halleluja. Kimy dreht den Wasserhahn zu und trocknet sich die Beine mit einem Handtuch ab. Ich tauche unter.
Später:
     
    Clare: Nach stundenlangem Kochen zerre ich die Kozo-Fasern auseinander, und auch sie landen im Holländer. Je länger sie drin bleiben, umso feiner und mehliger wird die Pulpe. Nach vier Stunden füge ich

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