Die Frau des Zeitreisenden
öffnet. Eine ganze Weile steht sie ruhig da und mustert mich, und ich mustere sie und denke nur, oh, Ing, was hast du dir nur angetan?
Die Ingrid, die in meiner Erinnerung lebt, ist der coole, strahlend blonde Engel, den ich auf Jimbos Unabhängigkeitstags-Party am 4. Juli 1988 kennen gelernt habe. Ingrid Carmichel war umwerfend und unnahbar, umgeben von einer glänzenden Rüstung aus Reichtum, Schönheit und Langeweile. Die Ingrid, die mich jetzt ansieht, wirkt hager, hart und müde. Sie hält den Kopf leicht zur Seite geneigt und betrachtet mich voller Verwunderung und Verachtung. Offenbar wissen wir beide nichts zu sagen. Schließlich zieht sie ihren Mantel aus, wirft ihn auf den Stuhl und hockt sich ans andere Ende des Sofas. Sie hat eine Lederhose an, die beim Hinsetzen ein bisschen quietscht.
»Henry.«
»Ingrid.«
»Was machst du hier?«
»Ich weiß nicht. Entschuldige. Ich bin einfach ... na, du weißt schon.« Ich zucke die Achseln. Meine Beine schmerzen so sehr, dass mir fast schon egal ist, wo ich bin.
»Du siehst beschissen aus.«
»Ich habe starke Schmerzen.«
»Wie komisch. Ich auch.«
»Ich meine körperliche Schmerzen.«
»Warum?« Wenn es nach Ingrid ginge, könnte ich auf der Stelle vor ihren Augen in Flammen aufgehen. Ich schlage die Decke zurück und zeige ihr meine Stümpfe.
Sie schreckt nicht zurück und schnappt nicht nach Luft. Sie schaut auch nicht woandershin, und als sie es tut, sucht sie meinen Blick, und ich sehe, dass mich Ingrid, ausgerechnet sie, vollkommen versteht. Aus gänzlich unterschiedlichen Gründen haben wir denselben Zustand erreicht. Sie steht auf, geht in ein Nebenzimmer und kommt mit ihrem alten Nähkorb zurück. Hoffnung wallt in mir auf, und sie wird nicht enttäuscht: Ingrid setzt sich, öffnet den Deckel und wie in den guten alten Tagen tut sich, neben Nadelkissen und Fingerhüten, eine komplette Apotheke auf.
»Was willst du?«, fragt Ingrid.
»Opiate.« Sie durchwühlt einen Plastikbeutel voller Pillen und bietet mir eine Auswahl an. Ich entdecke Ultram und nehme zwei. Kaum habe ich sie trocken geschluckt, holt sie mir ein Glas Wasser, das ich in einem Zug austrinke.
»Nun.« Ingrid fährt sich mit ihren langen roten Fingernägeln durch die langen blonden Haare. »Von wann kommst du?«
»Dezember 2006. Den wievielten habt ihr hier?«
Ingrid sieht auf die Uhr. »Eben war noch Neujahr, aber inzwischen haben wir den 2. Januar 1994.«
Oh, nein. Bitte nicht. »Was ist los?«, fragt Ingrid.
»Nichts.« Heute ist der Tag, an dem Ingrid Selbstmord begehen wird. Was soll ich ihr nur sagen? Ob ich sie aufhalten kann? Und wenn ich jemand anrufen würde? »Hör mal, Ing, ich möchte dir nur sagen...« Ich zögere. Was darf ich ihr erzählen, ohne dass ich sie erschrecke? Spielt das jetzt noch eine Rolle? Zumal sie inzwischen tot ist. Auch wenn sie hier direkt vor mir sitzt.
»Was?«
Ich schwitze. »Geh einfach ... gut mit dir um. Tu dir nichts... ich meine, ich weiß, du bist nicht sehr glücklich...«
»Und wer ist daran wohl schuld?« Ihr mit leuchtend rotem Lippenstift bemalter Mund zieht sich missbilligend zusammen. Ich antworte ihr nicht. Bin ich wirklich schuld? Ich weiß es nicht genau. Ingrid starrt mich an, als wenn sie eine Antwort erwartet. Ich wende den Blick von ihr ab, betrachte das Poster von Maholy-Nagy an der Wand gegenüber. »Henry?«, sagt Ingrid. »Warum warst du so gemein zu mir?«
Schweren Herzens lenke ich meinen Blick wieder auf sie. »War ich das? Es war keine Absicht.«
Ingrid schüttelt den Kopf. »Dir war völlig egal, ob ich lebe oder sterbe.«
Ach, Ingrid. »Das ist mir nicht egal. Ich will nicht, dass du stirbst.«
»Es war dir egal. Du hast mich verlassen und bist nicht mal ins Krankenhaus gekommen.« Ingrid presst die Worte mühsam aus sich heraus.
»Deine Familie wollte nicht, dass ich komme. Deine Mutter wollte, dass ich wegbleibe.«
»Du hättest kommen sollen.«
»Ingrid«, entgegne ich seufzend, »dein Arzt hat mir gesagt, ich darf dich nicht besuchen.«
»Als ich gefragt habe, hieß es, du hättest nie angerufen.«
»Ich habe angerufen, aber man hat mir gesagt, du willst mich nicht sprechen und ich soll nicht mehr anrufen.« Langsam setzt das Schmerzmittel ein. Das Stechen in meinen Beinen lässt nach. Ich fasse unter die Decke und lege meine Handflächen auf den linken Stumpf, dann auf den rechten.
»Ich wäre beinahe gestorben, und du hast nie wieder mit mir gesprochen.«
»Ich dachte, du willst nicht mit
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