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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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aber er hebt sie von sich weg und setzt sie auf den Füßen ab. Alba rennt um den Tisch und schlingt mir die Arme um die Schultern. »Du musst auch brüllen!«, schreit sie mir ins Ohr.
    Ich stehe auf und hebe Alba hoch. Inzwischen ist sie sehr schwer. »Brüll selber.« Ich trage sie durch den Flur, werfe sie auf ihr Bett, und sie kreischt vor Vergnügen. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigt 4.16 Uhr. »Siehst du?« Ich zeige auf die Uhr. »Zu früh für dich, um aufzustehen.« Nach dem obligatorischen Theater legt Alba sich wieder ins Bett, und ich gehe zurück in die Küche. Henry hat uns beiden Kaffee eingeschenkt. Ich setze mich wieder. Hier ist es kalt.
    »Clare.«
    »Mmm?«
    »Wenn ich tot bin...« Henry stockt, blickt zur Seite, holt tief Luft, beginnt erneut. »Ich habe für alles gesorgt, sämtliche Dokumente, du weißt schon, mein Testament, Briefe an Leute, Sachen für Alba -in meinem Schreibtisch liegt alles.« Ich kann nichts sagen. Henry sieht mich an.
    »Wann?«, frage ich. Henry schüttelt den Kopf. »Monate? Wochen? Tage?«
    »Ich weiß es nicht, Clare.« Das stimmt nicht, natürlich weiß er es.
    »Du hast die Todesanzeige gelesen, stimmt’s?« Henry zögert, dann nickt er. Ich öffne den Mund, will noch einmal fragen, aber dann habe ich Angst.

STUNDEN, WENN NICHT TAGE
Freitag, 24. Dezember 2006 (Henry ist 43, Clare 35)
     
    Henry: Ich bin früh wach, so früh, dass das Schlafzimmer im Licht der Morgendämmerung blau schimmert. Ich liege im Bett, lausche Clares tiefem Atem, lausche dem sporadischen Verkehrslärm auf der Lincoln Avenue, den Krähen, die sich gegenseitig rufen, der Heizung, die sich abschaltet. Meine Beine tun weh. Ich setze mich auf, taste nach dem Vicodin-Fläschchen auf meinem Nachttisch, nehme zwei und spüle sie mit schaler Cola hinunter.
    Ich rutsche wieder unter die Decke und lege mich auf die Seite. Clare schläft auf dem Bauch, ihre Arme sind wie zum Schutz um den Kopf geschlungen. Ihre Haare sind unter der Decke versteckt. Ohne das Ambiente ihrer Haare wirkt sie kleiner. Sie schläft mit der Schlichtheit, die ihr als Kind eigen war. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich Clare jemals als Kind schlafen sah, und stelle fest, dass das nie der Fall war. Wahrscheinlich habe ich an Alba gedacht. Es wird hell. Clare bewegt sich, dreht sich zu mir, auf die Seite. Ich betrachte ihr Gesicht. An Augenwinkeln und Mund sind ein paar schwache Linien, eine erste Andeutung auf Clares Gesicht in den mittleren Jahren. Nie werde ich dieses Gesicht sehen, und das bedaure ich bitter, dieses Gesicht, mit dem Clare ohne mich leben wird, das nie von mir geküsst werden, das zu einer Welt gehören wird, die ich nicht kenne, außer in der Erinnerung von Clare, endgültig in die konkrete Vergangenheit verbannt.
    Heute ist der siebenunddreißigste Todestag meiner Mutter. In diesen siebenunddreißig Jahren habe ich jeden Tag an sie gedacht, mich nach ihr gesehnt, und mein Vater hat, glaube ich, fast ununterbrochen an sie gedacht. Könnte leidenschaftliches Erinnern Tote auferwecken, dann wäre sie unsere Eurydike, dann würde sie wie Lady Lazarus von ihrem hartnäckigen Tod auferstehen und uns trösten. Doch unser Wehklagen konnte ihrem Leben nicht eine Sekunde, nicht einen Herzschlag mehr, nicht einen Atemzug hinzufügen. Mein Verlangen nach ihr wurde lediglich gestillt, indem ich zu ihr ging. Was hat Clare, wenn ich nicht mehr bin? Wie kann ich sie nur allein lassen?
    Alba redet im Schlaf. »He«, sagt sie. »He, Teddy! Pst, schlaf jetzt ein.« Stille. »Daddy?« Vorsichtig drehe ich mich um, befreie mich behutsam von der Decke, manövriere mich auf den Fußboden. Dann krieche ich aus unserem Schlafzimmer durch den Flur und in Albas Zimmer. Als sie mich sieht, kichert sie. Ich knurre sie an, und sie tätschelt mir den Kopf, als wäre ich ein Hund. Sie sitzt aufrecht im Bett, umgeben von allen Kuscheltieren, die sie besitzt. »Mach Platz, Rotkäppchen.« Alba rückt zur Seite, und ich hieve mich aufs Bett. Sie ordnet penibel ein paar Spielsachen um mich herum. Ich lege den Arm um sie, lehne mich zurück, und sie hält mir den Blauen Teddy vor die Nase. »Der möchte gern Marshmallows.«
    »Für Marshmallows ist es noch ein bisschen früh, Blauer Teddy. Wie wär’s mit pochierten Eiern und Toast?«
    Alba schneidet eine Grimasse, indem sie Mund, Augenbrauen und Nase zusammenzieht. »Teddy mag keine Eier«, verkündet sie.
    »Seht. Mama schläft noch.«
    »Na gut«, flüstert Alba laut. »Teddy will

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