Die Frau des Zeitreisenden
Sicht. Ich habe ihn seit mindestens einer Dreiviertelstunde nicht mehr gesehen und verspüre den starken Drang, ihn zu suchen, um mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht, um zu sehen, dass er da ist. »Entschuldige mich«, sage ich zu Kendrick, der aussieht, als wollte er die Unterhaltung gern fortsetzen. »Ein andermal. Wenn es ruhiger ist.« Er nickt. Nancy Kendrick erscheint mit Colin im Schlepptau, womit das Thema ohnehin tabu wäre. Sie beginnen eine lebhafte Diskussion über Eishockey, und ich entwische.
(21.48 Uhr)
Henry: Im Haus ist es sehr warm geworden, und um etwas abzukühlen sitze ich auf der umbauten Vorderveranda. Ich höre die Leute im Wohnzimmer reden. Der Schnee, der inzwischen dicht und schnell fällt, bedeckt die Autos und Büsche, zeichnet die harten Linien weicher und erstickt das Rauschen des Verkehrs. Eine wunderschöne Nacht. Ich öffne die Tür zwischen Veranda und Wohnzimmer.
»Hey Gomez.«
Er kommt herübergetrottet und streckt den Kopf durch die Tür.
»Ja?«
»Lass uns nach draußen gehen.«
»Da ist es saukalt.«
»Komm schon, du verweichlichter alter Stadtrat.«
Etwas in meinem Tonfall überzeugt ihn. »Schon gut, schon gut. Sekunde noch.« Er verschwindet und kehrt nach ein paar Minuten im Mantel zurück, meinen trägt er im Arm. Während ich mich hineinschlängle, bietet er mir seinen schicken Flachmann an.
»Oh, nein danke.«
»Wodka. Davon wachsen dir Haare auf der Brust.«
»Beißt sich mit Opiaten.«
»Ach, richtig. Wie schnell wir doch vergessen.« Gomez schiebt mich durchs Wohnzimmer. Oben an der Treppe hebt er mich aus dem Stuhl, nimmt mich Huckepack wie ein kleines Kind, wie einen Affen, und schon sind wir vor der Haustür im Freien und die kalte Luft fühlt sich an wie ein Chitinpanzer. Ich kann den Alkohol in Gomez’ Schweiß riechen. Irgendwo da draußen, hinter den grellen Chicagoer Lichtern, leuchten die Sterne.
»Genosse.«
»Mmm?«
»Danke für alles. Du warst der Beste...« Ich kann sein Gesicht nicht sehen, spüre aber, wie Gomez unter den vielen Kleiderschichten erstarrt.
»Was sagst du da?«
»Es besteht keine Hoffnung mehr, Gomez. Die Zeit ist um. Das Spiel ist aus.«
»Wann?«
»Bald.«
»Wie bald?«
»Ich weiß nicht«, lüge ich. Schon sehr bald. »Jedenfalls wollte ich dir sagen - ich weiß, dass ich dir manchmal ziemlich auf den Wecker gegangen bin« (Gomez lacht), »aber es war großartig« (ich stocke, weil ich den Tränen nahe bin) »es war wirklich großartig« (und da stehen wir, wir zwei sprachlosen unbeholfenen Amerikaner, unser Atem gefriert in Wolken vor uns, alle möglichen Worte bleiben nun unausgesprochen) und schließlich sage ich: »Komm, wir gehen wieder rein«, und das tun wir. Als Gomez mich sanft in den Rollstuhl zurücksetzt, umarmt er mich kurz, und dann entfernt er sich schweren Schrittes ohne sich umzudrehen.
Clare: Henry ist nicht im Wohnzimmer, das sich mit einem kleinen, aber wild entschlossenen Grüppchen von Leuten gefüllt hat, die in den verschiedensten unmöglichen Stilen zu den Squirrel Nut Zippers tanzen. Charisse und Matt legen etwas hin, das nach Cha-Cha-Cha aussieht, und Roberto tanzt mit beträchtlichem Charme mit Kimy, die sich gefühlvoll, aber unerschütterlich in einer Art Foxtrott bewegt. Gomez hat Sharon zugunsten von Catherine aufgegeben, die kreischt, wenn er sie herumwirbelt, und lacht, als er aufhört zu tanzen, um sich eine Zigarette anzuzünden.
Henry ist auch nicht in der Küche, die von Raoul, James, Lourdes und dem Rest meiner Künstlerfreunde in Beschlag genommen worden ist. Sie ergötzen sich gegenseitig mit Geschichten von schrecklichen Dingen, die Kunstagenten Künstlern angetan haben und umgekehrt. Lourdes erzählt gerade von Ed Kienholtz, der eine kinetische Skulptur schuf, die ein großes Loch in den teuren Schreibtisch seines Agenten bohrte. Alle lachen sie schadenfroh. Ich drohe ihnen mit dem Zeigefinger. »Lasst das bloß nicht Leah hören«, sage ich scherzhaft. »Wo ist Leah eigentlich?«, ruft James. »Die hat doch bestimmt ein paar ganz tolle Geschichten auf Lager...« Er begibt sich auf die Suche nach meiner Agentin, die auf der Treppe mit Mark einen Cognac trinkt.
Ben macht sich einen Tee. Er hat einen Plastikbeutel mit allen möglichen übel riechenden Kräutern, die er sorgsam in ein Teesieb abmisst, und das taucht er in einen Becher mit kochendem Wasser. »Hast du Henry gesehen?«, frage ich ihn.
»Ja, eben hab ich noch mit ihm geredet. Er ist auf der
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