Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
Vom Netzwerk:
unserer letzten Begegnung hast du gesagt, wenn wir uns Wiedersehen, soll ich das hier mitbringen«, Clare zeigt mir ein hellblaues Kindertagebuch, »also bitte« - sie reicht es mir -, »du kannst es haben«. Ich schlage es an der Stelle auf, wo ein Stück Zeitungspapier steckt. Die Seite, auf der oben rechts zwei kleine Cockerspaniels lauern, ist mit einer Liste von Daten gefüllt. Sie beginnt mit dem 23. September 1977 und endet sechzehn kleine, blaue, mit Hündchen bedruckte Seiten weiter am 24. Mai 1989. Ich zähle nach. Es sind hundertzweiundfünfzig Daten, sehr sorgfältig mit Kugelschreiber in der schnörkeligen Schönschrift einer Siebenjährigen geschrieben.
    »Stammt die Liste von dir? Sind alle Daten genau?«
    »Du hast sie mir doch selbst diktiert. Vor einigen Jahren hast du mir erzählt, du würdest sie alle auswendig kennen. Daher weiß ich nicht so ganz, wann die Liste ihren Anfang nahm; irgendwie kommt mir das Ganze wie ein Möbiusband vor. Aber die Daten stimmen. Durch sie wusste ich, wann ich zur Wiese kommen muss, um dich zu treffen.« Die Bedienung erscheint wieder, und wir bestellen: Tom Kha Kai für mich, Gang Mussaman für Clare. Ein Kellner bringt Tee, und ich gieße jedem von uns eine Tasse ein.
    »Was ist die Wiese?« Ich platze fast vor Neugier. Mir ist noch nie jemand aus meiner Zukunft begegnet, geschweige denn eine zarte Schönheit ä la Botticelli, die mich schon hundertzweiundfünfzig Mal gesehen hat.
    »Die Wiese gehört zum Haus meiner Eltern in Michigan. Auf einer Seite wird sie von Wald begrenzt, auf der anderen vom Haus. Ungefähr in der Mitte befindet sich eine Lichtung, etwa drei Meter im Durchmesser, in der ein großer Stein liegt, und wenn man auf der Lichtung ist, kann man vom Haus aus nicht gesehen werden, weil das Gelände erst ansteigt und zur Lichtung hin abfällt. Früher habe ich dort gespielt, weil ich gern allein war und immer dachte, keiner wüsste, dass ich dort bin. Eines Tages, ich war in der ersten Klasse, kam ich von der Schule zurück, ging zur Lichtung und da warst du.«
    »Splitternackt und wahrscheinlich kotzend.«
    »Um ehrlich zu sein, du warst sehr geistesgegenwärtig. Du kanntest meinen Namen, das weiß ich noch, und du bist ziemlich spektakulär verschwunden, auch das weiß ich noch. Im Nachhinein ist mir klar, dass du schon vorher dort warst. Zum ersten Mal vermutlich 1981, da war ich zehn. Du hast ständig »O Gott« gesagt und mich angestarrt. Außerdem warst du völlig außer dir, weil du nackt warst, dabei fand ich es zu der Zeit schon irgendwie selbstverständlich, dass so ein alter nackter Kerl wie durch Zauberei aus der Zukunft erscheint und um Kleidung bittet.« Clare lächelt. »Und um Essen.«
    »Was ist daran so komisch?«
    »Im Laufe der Jahre hab ich dir ein paar reichlich abgedrehte Mahlzeiten serviert. Sandwiches mit Erdnussbutter und Anchovis. Leberpastete mit Roter Bete auf Cracker. Ich nehme an, einerseits wollte ich herausfinden, ob es Dinge gibt, die du verschmähst, andererseits wollte ich dich mit meiner kulinarischen Hexenkunst beeindrucken.«
    »Wie alt war ich?«
    »Ich glaube, Anfang vierzig, da warst du am ältesten. Ich bin mir nicht sicher, wann du am jüngsten warst, vielleicht um die dreißig? Wie alt bist du jetzt?«
    »Achtundzwanzig.«
    »Im Augenblick wirkst du sehr jung. In den letzten Jahren warst du meistens Anfang vierzig und hattest allem Anschein nach ein ziemlich hartes Leben. Schwer zu sagen. Wenn man klein ist, kommen einem alle Erwachsenen groß und alt vor.«
    »Was haben wir denn auf der Wiese gemacht? Immerhin kommt ja einiges an Zeit zusammen.«
    Clare lächelt. »Wir haben vieles gemacht. Es hing von meinem Alter ab, und vom Wetter. Du hast mir oft bei den Hausaufgaben geholfen. Wir haben gespielt. Aber die meiste Zeit haben wir einfach über Sachen geredet. Als ich noch sehr jung war, hielt ich dich für einen Engel und hab dich ständig über Gott ausgefragt. Als Teenager wollte ich dich dazu bringen, mit mir zu schlafen, aber du bist immer standhaft geblieben, was meine Entschlossenheit natürlich nur verstärkt hat. Ich glaube, irgendwie hast du befürchtet, du könntest mich sexuell verbiegen. In mancher Hinsicht warst du sehr elterlich.«
    »Oh. Wahrscheinlich sollte mich das freuen, auch wenn ich im Augenblick keinen gesteigerten Wert darauf lege, dass man mich für elterlich hält.« Unsere Blicke begegnen sich. Wir beide müssen lächeln und sind Verschworene. »Was war im Winter? Die Winter in

Weitere Kostenlose Bücher