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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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klammere ich mich an Clares Arm, die uns den Mittelgang entlangführt, bis wir hintereinander in eine leere Reihe gehen. Clare und ihre Familie knien sich auf das Kniepolster, während ich mich, wie Clare es mir gesagt hat, auf die Bank setze. Wir sind noch zu früh. Alicia ist verschwunden. Nell sitzt mit ihrem Mann und ihrem Sohn, der von der Navy beurlaubt ist, hinter uns. Dulcie hat sich einer ihrer Altersgenossinnen angeschlossen. Clare, Mark, Sharon und Philip knien in unterschiedlicher Haltung Seite an Seite: Clare ist gehemmt, Mark sorglos, Sharon ruhig und in Gedanken vertieft, Philip erschöpft. Die Kirche ist mit Weihnachtssternen geschmückt. Es riecht nach Wachs und feuchten Mänteln. Rechts vom Altar steht eine aufwendige Krippenszene mit Maria und Joseph samt Gefolge. Nach und nach strömen die Leute herein, wählen Plätze, begrüßen einander. Clare setzt sich neben mich, Mark und Philip tun es ihr gleich; Sharon bleibt noch einige Minunten auf den Knien, und dann sitzen wir alle ruhig in einer Reihe und warten. Ein Mann im Anzug tritt auf die Bühne -Altar, egal - und testet die Mikrophone, die an den kleinen Lesepulten befestigt sind, dann verschwindet er wieder nach hinten. Mittlerweile sind sehr viel mehr Menschen gekommen, die Kirche ist voll. Alicia und zwei weitere Frauen und ein Mann erscheinen mit ihren Instrumenten auf der linken Altarseite. Die blonde Frau ist eine Geigerin, die unscheinbare braunhaarige Frau spielt Bratsche, und der Mann, so alt, dass er gebeugt geht und schlurft, spielt ebenfalls Geige. Alle sind sie schwarz gekleidet. Sie setzen sich auf ihre Klappstühle, knipsen das Licht über den Pulten an, rascheln mit den Notenblättern, zupfen verschiedene Saiten und sehen sich dabei, um übereinzustimmen, immer wieder an. Auf einmal sind die Kirchgänger still, und in diese Stille dringt ein langer, langsamer, tiefer Ton, der den Raum erfüllt, der keinem bekannten Musikstück entspringt, sondern schlicht existiert und trägt. Alicia streicht den Bogen so langsam wie es einem Menschen nur möglich ist, und der Ton, den sie dabei erzeugt, scheint aus dem Nichts zu kommen, scheint zwischen meinen Ohren zu entstehen, hallt in meinem Schädel wider, als würden Finger mein Gehirn streicheln. Dann hört sie auf. Das darauf folgende Schweigen ist kurz, aber absolut. Dann treten alle vier Musiker in Aktion. Nach der Schlichtheit dieses einzigen Tons klingt ihre Musik disharmonisch, modern und störend, könnte es Bartok sein? Dann aber zerlege ich, was ich höre, und erkenne, dass sie Stille Nacht spielen. Ich komme nicht dahinter, warum es so komisch klingt, bis ich sehe, wie die blonde Geigerin gegen Alicias Stuhl tritt, und einen Takt später kristalliert sich das Stück deutlich heraus. Clare sieht mich kurz an und grinst. Alle in der Kirche sind erleichtert. Auf Stille Nacht folgt ein mir unbekanntes Kirchenlied. Dann stehen alle auf und wenden sich dem Kircheneingang zu, in dem der Pfarrer mit einem großen Gefolge von kleinen Jungen und ein paar Männern in Anzügen erscheint. Feierlich schreiten sie den Mittelgang entlang zum Altar und nehmen ihre Plätze ein. Die Musik bricht abrupt ab. Oh, nein, denke ich, was kommt jetzt? Clare nimmt meine Hand, und wir stehen zusammen da, in der Menge, und wenn es einen Gott gibt, dann Gott, lass mich ruhig und unauffällig hier stehen bleiben, hier und jetzt, bitte.
     
    Clare: Henry sieht aus, als würde er jeden Moment umkippen. Lieber Gott, bitte lass ihn jetzt nicht verschwinden. Pfarrer Compton heißt uns mit seiner Radiosprecherstimme willkommen. Ich greife in Henrys Manteltasche, schiebe meine Finger durch das Loch unten, suche seinen Schwanz und drücke ihn. Er zuckt zusammen, als hätte ich ihm einen Elektroschock versetzt. »Der Herr sei mit euch«, sagt der Pfarrer. »Und mit deinem Geiste«, erwidern alle gleichmütig. Das Gleiche, alles ist gleich geblieben. Aber wir sind hier, endlich für alle sichtbar. Ich spüre, wie sich Helens Augen in meinen Rücken bohren. Ruth sitzt mit ihren Brüdern und Eltern fünf Reihen hinter uns. Nancy, Laura, Mary Christina, Patty, Dave und Chris, ja sogar Jason Everleigh - wie es aussieht, sind heute Abend alle da, mit denen ich einst zur Schule ging. Ich blicke zu Henry, der von alldem nichts bemerkt. Er schwitzt, sieht mich an, hebt eine Braue. Die Messe geht weiter. Die Lesungen, das Kyrie eleison, Friede sei mit euch: und mit deinem Geiste. Zum Evangelium, Lukas, Kapitel 2, stehen wir

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