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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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alle auf. Ein jeglicher im Römischen Reich ging, um geschätzt zu werden, in seine Stadt, auch Joseph und Maria, die schwanger war, die Geburt, wundersam, bescheiden. Die Windeln, die Krippe. Die Logik des Ganzen hat sich mir nie erschlossen, doch die Schönheit der Geschichte ist unbestreitbar. Die auf dem Feld weilenden Hirten. Und der Engel: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude... Henry wackelt wie wahnsinnig mit dem Bein. Er hat die Augen geschlossen und beißt sich auf die Lippe. Heerscharen von Engeln. Pfarrer Compton intoniert: »Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.« »Amen«, sagen wir und setzen uns zur Predigt. Henry beugt sich herüber und flüstert: »Wo ist die Toilette?«
    »Durch die Tür dort«, antworte ich und zeige auf die Tür, durch die Alicia, Frank und die anderen hereingekommen sind. »Wie komme ich da hin?«
    »Geh nach hinten und nimm dann den Seitengang.«
    »Wenn ich nicht zurückkomme...«
    »Du musst zurückkommen.« Als der Pfarrer sagt: »In dieser freudenreichen Nacht...«, steht Henry auf und entfernt sich schnell. Der Blick des Pfarrers folgt ihm. Ich sehe noch, wie er zur Tür hinaushuscht und sie hinter ihm zuschwenkt.
     
    Henry: Ich stehe in einem Gang, der mich an eine Grundschule erinnert. Nur keine Panik, schärfe ich mir immer wieder ein. Keiner sieht dich. Versteck dich irgendwo. Nervös sehe ich mich um, dort ist eine Tür: JUNGEN. Ich öffne sie und bin in einer zwergenhaften Männertoilette, braune Kacheln, die ganze Ausstattung winzig und niedrig am Boden, ein voll aufgedrehter Heizkörper, der den Geruch nach Behördenseife verstärkt. Ich öffne das Fenster ein wenig und halte mein Gesicht über den Spalt. Nadelbäume versperren die Aussicht, und so riecht die kalte Luft, die ich tief einsauge, nach Kiefern. Wenig später fühle ich mich nicht mehr so schwach. Ich lege mich auf den Kachelboden, eingerollt, Knie am Kinn. Das bin ich. Fest und solide. Jetzt. Hier auf diesen braunen Kacheln. Ist es wirklich zu viel verlangt? Kontinuität. Wenn es einen Gott gibt, will er bestimmt, dass wir gut sind, und es wäre unvernünftig zu erwarten, dass jemand ohne Ansporn gut ist, aber Clare ist gut, sehr gut sogar, und sie glaubt auch an Gott, warum also sollte er sie vor allen Leuten bloßstellen wollen?
    Ich öffne die Augen. Die winzigen Porzellanbecken sind alle von einer schimmernden Aura umgeben, himmelblau, grün und purpurrot. Ich finde mich mit meinem Verschwinden ab, nun ist es nicht mehr aufzuhalten, und ich zittere: »Nein!«, doch ich bin schon fort.
     
    Clare: Der Pfarrer beendet seine Predigt, die vom Frieden in der Welt handelt, und Daddy beugt sich über Sharon und Mark und flüstert: »Ist dein Freund krank?«
    »Ja«, flüstere ich zurück, »er hat Kopfschmerzen und manchmal wird ihm dann schwindlig.«
    »Soll ich nachsehen, ob ich ihm helfen kann?«
    »Nein! Er kommt schon klar.« Daddy wirkt nicht überzeugt, bleibt aber sitzen. Der Pfarrer segnet die Gemeinde. Am liebsten würde ich hinausrennen und Henry selbst suchen, aber ich beherrsche mich. Die ersten Reihen stehen zur Kommunion an. Alicia spielt die Cello Suite Nr. 2 von Bach. Sie klingt traurig und schön. Komm zurück, Henry. Bitte komm zurück.
     
    Henry: Ich bin in meiner Wohnung in Chicago. Es ist dunkel, ich knie im Wohnzimmer. Mühsam richte ich mich auf und stoße mir den Ellbogen am Bücherregal. »Mist!« Ich kann es nicht fassen. Nicht einen einzigen Tag kann ich bei Clares Familie durchstehen, ohne dass ich aufgesogen und wie ein beschissener Tischtennisball in meiner beschissenen Wohnung ausgespuckt werde.
    »Hey.« Ich drehe mich um, und da, auf dem Schlafsofa, bin ich und setze mich schläfrig auf.
    »Der wievielte ist heute?«, will ich wissen.
    »28. Dezember 1991.« Heute in vier Tagen.
    Ich setze mich aufs Bett. »Das halt ich nicht aus.«
    »Bleib locker. In ein paar Minuten bist du wieder dort. Keiner wird etwas merken. Der Rest deines Besuches wird wie geschmiert laufen.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Hör auf zu heulen«, sagt mein Ich in einer perfekten Imitation meines Vaters. Am liebsten würde ich ihn verprügeln, aber was würde das bringen? Im Hintergrund läuft leise Musik.
    »Ist das Bach?«
    »Klar, in deinem Kopf. Du hörst Alicia.«
    »Das ist komisch. Oh!« Ich renne ins Bad und schaffe es fast.
     
    Clare: Die letzten Gläubigen empfangen die Kommunion, als Henry an der Tür erscheint, ein wenig blass, aber

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