Die Frau des Zeitreisenden
Elternhaus sagt Clare: »Du bist ungewöhnlich ruhig.«
»Ich denke über die beiden Teenies nach. Die kleinen Punks.«
»Ach so. Was ist mit ihnen?«
»Mich würde interessieren, was diesen Jungen...«
»Bobby.«
»...was Bobby dazu bewegt, so weit zurückzukehren und sich an eine Musik zu hängen, die im Jahr seiner Geburt entstand...«
»Na ja, ich war ein echter Beatles-Fan«, gibt Clare zu bedenken. »Und die haben sich ein Jahr vor meiner Geburt getrennt.«
»Ja, schon, aber woran liegt das? Ich meine, du hättest eigentlich bei Depeche Mode, Sting oder sonst wem dahinschmelzen müssen. Wenn Bobby und seine Freundin sich gern verkleiden, sollten sie The Cure hören. Aber stattdessen sind sie in diese Punk-Sache gestolpert, von der sie keine Ahnung haben...«
»Ich bin sicher, damit wollen sie vor allem ihre Eltern ärgern. Laura hat mir erzählt, dass ihr Dad Jodie in diesem Aufzug nicht aus dem Haus lässt. Sie packt alles in ihren Rucksack und zieht sich in der Schule auf der Toilette um«, sagt Clare.
»Aber das haben doch damals alle gemacht. Natürlich geht es darum, den eigenen Individualismus geltend zu machen, das leuchtet mir ein, aber warum muss es der Individualismus von 1977 sein? Sie sollten karierte Flanellhemden tragen.«
»Und warum ist dir das so wichtig?«
»Es deprimiert mich. Es erinnert mich daran, dass die Zeit, in die ich gehörte, tot ist, und nicht nur das, sie ist in Vergessenheit geraten. Keines der Stücke wird jemals im Radio gespielt, frag mich nicht warum. Als hätte das alles nie stattgefunden. Deshalb werd ich ganz kribbelig, wenn ich Teenies sehe, die sich als Punks verkaufen, weil ich nicht will, dass diese Zeit einfach verschwindet.«
»Aber«, sagt Clare, »du kannst ja jederzeit zurück, während die meisten Leute in der Gegenwart festsitzen; du kannst immer wieder dort sein.«
Ich denke darüber nach. »Trotzdem, Clare, es ist traurig. Auch wenn ich etwas Tolles mache, wie, sagen wir, ich geh in ein Konzert, das ich beim ersten Mal verpasst habe, vielleicht mit einer Band, die sich zwischenzeitlich aufgelöst hat oder bei der ein Mitglied gestorben ist, dann ist es traurig, das Ganze zu sehen, weil ich weiß, was geschehen wird.«
»Aber verhält es sich nicht mit allem in deinem Leben so?«
»Doch, natürlich.« Wir sind an die Privatstraße gelangt, die zu Clares Haus führt. Sie biegt ein.
»Henry?«
»Ja?«
»Wenn du jetzt damit aufhören könntest... wenn du nicht mehr durch die Zeit reisen könntest, ohne dass es Folgen hätte, würdest du es dann tun?«
»Wenn ich jetzt aufhören könnte und dich trotzdem kennen lernen würde?«
»Du hast mich schon kennen gelernt.«
»Ja. Dann würde ich aufhören.« Ich sehe Clare an, düster im dunklen Auto.
»Das wäre lustig«, sagt sie. »Dann könnte ich in Erinnerungen schwelgen, die du nie haben würdest. Es wäre so, als - nein, es ist so, als wäre man mit jemandem zusammen, der an Gedächtnisschwund leidet. Seit wir hier sind, habe ich dieses Gefühl.«
Ich muss lachen. »In Zukunft kannst du also beobachten, wie ich in jede Erinnerung hineinstolpere, bis ich sie alle zusammen habe. Heb sie gut auf.«
Sie lächelt. »Wahrscheinlich.« Clare biegt in die geschwungene Auffahrt vor dem Haus ein. »Trautes Heim, Glück allein.«
Später, nachdem wir oben in unsere getrennten Zimmer geschlüpft sind, ich meinen Schlafanzug angezogen und mir die Zähne geputzt habe und dann in Clares Zimmer geschlichen bin, ohne diesmal zu vergessen, die Tür abzusperren, liegen wir warm in ihrem Bett, und sie flüstert: »Ich möchte nicht, dass du etwas verpasst.«
»Was verpasst?«
»Alles, was geschehen ist. Als ich noch ein Kind war. Bisher hat sich ja erst die Hälfte zugetragen, weil du bei vielem nicht dabei warst. Erst wenn du eine Sache erlebst, wird sie wahr.«
»Bin schon unterwegs.« Ich streiche mit der Hand über ihren Bauch und weiter hinunter zwischen die Beine. Clare stößt einen leisen Schrei aus.
»Seht.«
»Deine Hand ist eisig.«
»Entschuldigung.« Wir machen es ganz vorsichtig, still. Als ich schließlich komme, ist es so intensiv, dass mich rasende Kopfschmerzen plagen, und einen Augenblick lang befürchte ich schon, ich verschwinde gleich, aber nein. Stattdessen liege ich in Clares Armen, verdrehe die Augen vor Schmerzen. Clare schnarcht, ruhige animalische Schnarcher, die sich in meinem Kopf wie donnernde Bulldozer anfühlen. Ich sehne mich nach meinem eigenen Bett, meiner eigenen
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