Die Frau des Zeitreisenden
großem Lob für Nell und die Hummer. Alle lächeln, zeigen gute Manieren und sehen schön aus. Wir sind eine glückliche Vorzeigefamilie, ein Aushängeschild für die Bourgeoisie. Wir sind alles, wonach ich mich jedes Jahr am ersten Weihnachtstag gesehnt habe, wenn ich mit Dad und Mrs und Mr Kim im Restaurant Lucky Wok essen war und mich unter den ängstlichen Blicken der Erwachsenen bemühte, so zu tun, als würde ich mich freuen. Aber wenngleich wir nach dem Essen wohlgenährt im Wohnzimmer faulenzen, uns ein Footballspiel ansehen, in den Büchern schmökern, die wir einander geschenkt haben, und versuchen, einige Geschenke mit Batterien zu bestücken oder zusammenzubauen, damit sie funktionieren, herrscht eine unterschwellige Spannung. Es ist, als wäre irgendwo in einem der entfernteren Zimmer im Haus ein Waffenstillstand unterzeichnet worden und alle Parteien bemühen sich nun, ihn zu respektieren, zumindest bis morgen, zumindest so lange, bis die nächste Waffenlieferung kommt. Alle schauspielern wir, geben uns völlig entspannt, mimen die ideale Mutter, den idealen Vater, Schwester, Bruder, Freund, Verlobte. Und so ist es eine Erleichterung, als Clare auf die Uhr sieht, von der Couch aufsteht und sagt: »Komm, es ist Zeit, wir gehen zu Laura.«
Clare: Bei unserer Ankunft ist Lauras Party schon voll im Gang. Henry, der angespannt und blass wirkt, steuert sofort auf den Alkohol zu, sobald wir die Mäntel ausgezogen haben. Da ich noch vom Wein von heute Mittag müde bin, lehne ich kopfschüttelnd ab, als er mich fragt, was ich trinken möchte, und er bringt mir eine Cola. Er klammert sich an sein Bier, als wäre es Ballast. »Lass mich jetzt auf keinen Fall allein«, bittet Henry mich mit einem Blick über meine Schulter, und noch bevor ich mich umdrehen kann, steht Helen bei uns. Ein kurzes, verlegenes Schweigen tritt ein.
»Na, Henry«, sagt Helen, »wir haben gehört, dass du Bibliothekar bist. Du siehst aber gar nicht so aus.«
»Eigentlich bin ich Model für Calvin-Klein-Unterwäsche. Die Bilbiothekarsnummer dient nur zur Tarnung.«
Bisher habe ich Helen noch nie in Verlegenheit gesehen. Ich wünschte, ich hätte eine Kamera. Aber sie gewinnt schnell wieder ihre Fassung, mustert Henry von oben bis unten und lächelt. »Gut, Clare, du darfst ihn behalten«, sagt sie.
»Da bin ich aber erleichtert«, entgegne ich. »Ich hab nämlich das Rezept verloren.« Laura, Ruth und Nancy strömen von verschiedenen Seiten auf uns zu, sie wirken entschlossen und nehmen uns ins Verhör: Wie haben wir uns kennen gelernt, womit verdient Henry sein Geld, wo hat er studiert, bla, bla, bla. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass unser erster gemeinsamer Auftritt in der Öffentlichkeit zugleich so nervenaufreibend und langweilig wird. Ich schalte mich wieder ein, als Nancy gerade sagt: »Wirklich seltsam, dass du Henry heißt.«
»Ach?«, sagt Henry. »Wieso das?«
Nancy erzählt ihm von der Schlafanzugparty bei Mary Christina, von der Oujatafel und ihrer Prophezeiung, ich würde einen Mann namens Henry heiraten. Henry wirkt beeindruckt. »Tatsächlich?«, fragt er mich.
»Ja.« Plötzlich muss ich dringend auf die Toilette. »Entschuldigt mich«, sage ich, löse mich von der Gruppe und übersehe Henrys flehentliche Miene. Helen heftet sich an meine Fersen, als ich nach oben renne. Ich muss ihr geradezu die Badezimmertür vor der Nase zuknallen, damit sie nicht mit hereinkommt.
»Mach auf, Clare«, sagt sie und rüttelt am Türknopf. Ich lasse mir Zeit, gehe auf die Toilette, wasche mir die Hände, lege frischen Lippenstift auf. »Clare«, grummelt Helen, »ich geh nach unten und erzähle deinem Freund jede einzelne Sünde, die du in deinem Leben begangen hast, wenn du diese Tür nicht sof...« Ich reiße die Tür auf, und Helen fällt fast ins Zimmer.
»Na schön, Clare Abshire«, sagt Helen drohend und schließt die Tür. Ich setze mich auf den Badewannenrand, sie baut sich, ans Waschbecken gelehnt, in ihren Pumps vor mir auf. »Gib’s zu. Was läuft eigentlich mit dir und diesem Henry? Im Ernst, du stellst dich hin und tischst uns einen dicken Haufen Lügen auf. Du hast diesen Kerl nicht vor drei Monaten kennen gelernt, du kennst ihn schon seit Jahren! Worin liegt das große Geheimnis?«
Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen soll. Sollte ich Helen die Wahrheit erzählen? Nein. Aber warum nicht? Wenn ich mich recht entsinne, hat Helen Henry nur einmal gesehen, und da sah er nicht viel anders aus als
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