Die Frau des Zeitreisenden
Der Verkehr wird wieder schneller. Schon bald hält Clare vor meinem Wohnhaus. Ich hole meine Tasche aus dem Kofferraum, und während ich beobachte, wie Clare losfährt und die Dearborn Street entlangrollt, schnürt sich mir der Hals zu. Stunden später weiß ich, dass es sich bei meinem Gefühl um Einsamkeit handelt; offiziell ist Weihnachten wieder für ein Jahr vorbei.
HOME IS ANYWHERE YOU HANG YOUR HEAD
Samstag, 9. Mai 1992 (Henry ist 28)
Henry: Ich habe beschlossen, dass die beste Strategie ist, ihn direkt zu fragen: Entweder er sagt Ja oder Nein. Ich nehme die Ravenswood-Linie zu Dads Wohnung, dem Zuhause meiner Jugend. In letzter Zeit bin ich nicht oft dort gewesen. Dad lädt mich selten ein, und es ist nicht meine Art, unangekündigt aufzutauchen, wie ich es jetzt gerade tue. Aber wenn er nicht ans Telefon geht, kann er nichts anderes erwarten. An der Western Avenue steige ich aus und gehe die Lawrence entlang in westlicher Richtung. Das Haus mit den zwei Wohnungen liegt an der Virginia Road; die hintere Veranda schaut auf den Chicago River. Als ich im Foyer stehend nach dem Schlüssel suche, späht Mrs Kim aus ihrer Tür und winkt mich verstohlen zu sich herein. Ich bin beunruhigt, denn normalerweise ist Kimy sehr herzlich, laut und liebevoll, und obwohl sie alles weiß, was es über uns zu wissen gibt, mischt sie sich nie ein. Oder besser, fast nie. Um genau zu sein, nimmt sie regen Anteil an unserem Leben, aber uns stört es nicht. Ich merke, dass sie äußerst besorgt ist.
»Willst du eine Cola?« Sie marschiert bereits in die Küche.
»Gern.« Ich stelle meinen Rucksack neben der Eingangstür ab und gehe hinter ihr her. In der Küche hebelt sie krachend das Metallgitter einer altmodischen Eiswürfelschale. Kimys Kraft bringt mich immer wieder zum Staunen. Mittlerweile muss sie siebzig sein, doch auf mich wirkt sie noch genauso wie früher, als ich klein war. Hier unten habe ich viel Zeit verbracht, ihr beim Essen kochen für Mr Kim (der vor fünf Jahren starb) geholfen, gelesen, Hausaufgaben gemacht und ferngesehen. Ich setze mich an den Küchentisch, und sie stellt mir ein Glas Cola hin, bis zum Rand mit Eis gefüllt. Sie hat eine halb ausgetrunkene Tasse Instantkaffee, eine der feinen Porzellantassen, um deren Rand Kolibris gemalt sind. Ich erinnere mich noch, als ich das erste Mal Kaffee aus einer dieser Tassen trinken durfte: Ich war dreizehn und fühlte mich sehr erwachsen.
»Lange nicht gesehen, Freund.«
Aua. »Ich weiß. Tut mir Leid ... aber irgendwie ist mir die Zeit davongelaufen.«
Sie taxiert mich. Kimy hat durchdringende schwarze Augen, mit denen sie bis in den letzten Winkel meines Gehirns sehen kann. Ihr flaches koreanisches Gesicht verbirgt jegliche Emotion, es sei denn, sie will, dass man sie sieht. Kimy ist eine fantastische Bridge-Spielerin.
»Bist du wieder durch die Zeit gereist?«
»Nein. Im Gegenteil, ich bin seit Monaten nicht mehr unterwegs gewesen. Das war schön.«
»Hast du eine Freundin?«
Ich grinse.
»Ho ho. Gut, ich weiß Bescheid. Wie heißt sie? Und warum bringst du sie nicht mit?«
»Sie heißt Clare. Ich wollte sie schon einige Male mitbringen, aber er lehnt immer ab.«
»Mich hast du nie gefragt. Bring sie mit zu mir, dann kommt Richard auch. Wir essen Ente almondine.«
Wie immer bin ich von meiner eigenen Beschränktheit beeindruckt. Mrs Kim weiß für jedes private Problem stets die ideale Lösung. Mein Vater, der nicht die geringsten Skrupel hat, mir gegenüber den Muffel herauszukehren, würde sich für Mrs Kim jederzeit ins Zeug legen, und das sollte er auch, denn immerhin hat sie sein Kind weitgehend allein groß gezogen und berechnet ihm vermutlich auch nicht die übliche Marktmiete.
»Du bist ein Genie.«
»Ja. Wie kommt es, dass mir die MacArthur Foundation nie einen Zuschuss für Frieden stiftende Arbeit gewährt? Kannst du mir das sagen?«
»Nein. Vielleicht gehst du nicht oft genug aus dem Haus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man den MacArthur-Leuten bei Bingo World begegnet.«
»Nein, die haben schon genug Geld. Und wann heiratest du?«
Ich muss so lachen, dass mir etwas Cola durch die Nase läuft. Kimy fährt hoch und klopft mir auf den Rücken. Als es besser wird, setzt sie sich brummelig wieder hin. »Was ist so lustig? Ich frag ja bloß. Fragen darf ich doch wohl, oder?«
»Nein, daran liegt es nicht... ich meine, ich lache nicht, weil es so abwegig ist, sondern weil du meine Gedanken liest. Ich bin hier, um Dad zu
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