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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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Wohnung. Trautes Heim, Glück allein. Zu Hause ist es am schönsten. Zu Hause ist, wo mein Herz ist. Aber mein Herz ist hier. Ich muss also zu Hause sein. Clare seufzt, dreht ihren Kopf, ist wieder still. Hallo, Liebes, ich bin zu Hause. Endlich zu Hause.
     
    Clare: Es ist ein klarer, kalter Morgen. Wir haben schon gefrühstückt. Das Auto ist gepackt. Mark und Sharon sind bereits mit Daddy zum Flughafen in Kalamazoo aufgebrochen. Henry verabschiedet sich in der Eingangshalle von Alicia; ich renne nach oben in Mamas Zimmer.
    »Ach, ist es schon so spät?«, fragt sie, als sie mich in Mantel und Stiefeln sieht. »Ich dachte, ihr bleibt bis zum Mittagessen.« Mama sitzt an ihrem Schreibtisch, der wie immer mit Papierblättern, die mit ihrer extravaganten Handschrift beschrieben sind, übersät ist.
    »Woran arbeitest du gerade?« Was es auch sein mag, es ist voll durchgestrichener Wörter und Gekritzel.
    Mama dreht die Seite um. Ihr Schreiben hütet sie wie ein Geheimnis. »Nichts. Ein Gedicht über den Garten im Schnee. Aber es will mir irgendwie nicht gelingen.« Mama steht auf, geht hinüber zum Fenster. »Schon komisch, dass Gedichte nie so schön sind wie der echte Garten. Jedenfalls meine Gedichte.«
    Dazu kann ich mich nicht äußern, denn Mama hat mich noch nie eins ihrer Gedichte lesen lassen, deshalb sage ich nur: »Ja, dein Garten ist wunderschön«, aber sie wischt das Kompliment mit der Hand beiseite. Lob bedeutet Mama nichts, sie glaubt es einfach nicht. Nur Kritik lässt ihre Wangen erröten und fesselt ihre Aufmerksamkeit. An eine geringschätzige Bemerkung würde sie sich ewig erinnern. Es entsteht ein verlegenes Schweigen. Ich merke, wie sie darauf wartet, dass ich gehe, damit sie weiterschreiben kann.
    »Wiedersehen, Mama.« Ich küsse ihr kühles Gesicht und entfliehe.
     
    Henry: Seit ungefähr einer Stunde sind wir unterwegs. Kilometerlang war die Straße nur von Kiefern gesäumt, nun fahren wir durch flaches Land voll Stacheldrahtzäunen. Seit einiger Zeit hat keiner von uns etwas gesagt. Sobald mir das auffällt, empfinde ich unser Schweigen als seltsam, also sage ich etwas.
    »War alles gar nicht so schlimm.« Meine Stimme klingt zu fröhlich, zu laut in dem kleinen Auto. Clare antwortet nicht, und ich blicke zu ihr hinüber. Sie weint, und während sie fährt und so tut, als würde sie nicht weinen, laufen ihr Tränen über die Wangen. Noch nie habe ich Clare weinen sehen, und etwas an ihren stummen stoischen Tränen irritiert mich. »Clare. Clare, vielleicht ... könntest du vielleicht mal kurz anhalten?« Ohne mich anzusehen, fährt sie langsamer und steuert auf den Seitenstreifen, bleibt stehen. Wir sind irgendwo in Indiana. Der Himmel ist blau, auf dem Feld an der Straße sind viele Krähen. Clare lehnt die Stirn ans Steuer und atmet einmal lang und abgehackt durch.
    »Clare.« Ich rede mit ihrem Hinterkopf. »Clare, es tut mir Leid. Liegt es... hab ich was falsch gemacht? Was ist los? Ich...«
    »An dir liegt es nicht«, sagt sie unter ihrem Haarschleier. Wir sitzen eine ganze Weile so da.
    »Was ist dann los?« Clare schüttelt den Kopf, ich starre sie an. Schließlich nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und berühre sie. Ich streiche ihr über die Haare, und durch die dicken schimmernden Wellen spüre ich die Knochen in Nacken und Rückgrat. Sie dreht sich zu mir, und ich nehme sie über die getrennten Sitze hinweg unbeholfen in den Arm; Clare weint jetzt so heftig, dass sie zittert.
    Dann verstummt sie und sagt: »Zum Teufel mit Mama.«
    Später stehen wir auf dem Dan Ryan Expressway in einem Verkehrsstau und hören Irma Thomas. »Henry? War es ... hat es dir viel ausgemacht?«
    »Was ausgemacht?«, frage ich und denke, sie redet von ihrem Weinen.
    Aber sie sagt: »Meine Familie? War sie... kam sie dir... ?«
    »Sie war in Ordnung, Clare. Ich mochte sie wirklich. Vor allem Alicia.«
    »Manchmal möchte ich sie alle in den Lake Michigan stoßen und zusehen, wie sie versinken.«
    »Das Gefühl kenn ich gut. Übrigens, ich glaube, dein Vater und dein Bruder haben mich irgendwann gesehen. Und beim Abschied hat Alicia etwas sehr Merkwürdiges gesagt.«
    »Einmal hab ich dich mit Dad und Mark gesehen. Und Alicia ist dir mit zwölf definitiv einmal im Keller begegnet.«
    »Könnte das ein Problem werden?«
    »Nein, denn die Erklärung ist zu abwegig, um sie zu glauben.« Wir beide müssen lachen, und die Spannung, die uns auf der gesamten Fahrt nach Chicago beherrscht hat, löst sich auf.

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