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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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jetzt. Ich mag Helen sehr gern. Sie ist stark, sie ist verrückt, sie lässt sich nicht so leicht täuschen. Aber sie würde mir nie glauben, wenn ich ihr sagen würde, er reist durch die Zeit. Um das zu glauben, muss man es sehen.
    »Gut«, sage ich und nehme meine Sinne zusammen. »Ja, ich kenne ihn schon sehr lange.«
    »Wie lange?«
    »Seit meinem sechsten Lebensjahr.«
    Helens Augen treten hervor wie bei einer Comicfigur. Ich muss lachen.
    »Warum ... wie kommt es ... und seit wann gehst du richtig mit ihm?«
    »Keine Ahnung. Ich meine, es gab eine Phase, als alles irgendwie auf der Kippe stand, aber richtig gelaufen ist nichts, verstehst du; Henry war ziemlich unnachgiebig, er wollte nicht mit einem kleinen Mädchen rummachen, was dazu geführt hat, dass ich hoffnungslos verrückt nach ihm war.«
    »Aber warum hast du uns nie von ihm erzählt? Mir ist unbegreiflich, wozu diese Heimlichtuerei gut sein sollte. Mir hättest du’s doch erzählen können.«
    »Na ja, du wusstest es ja irgendwie.« Eine lahme Ausrede, ich weiß.
    Helen macht ein gekränktes Gesicht. »Das ist anders, als wenn du es mir sagst.«
    »Ich weiß. Tut mir Leid.«
    »Pfff. Also warum?«
    »Er ist acht Jahre älter als ich.«
    »Na und?«
    »Als ich zwölf war und er zwanzig, war das ein Problem.« Ganz zu schweigen von der Zeit, als ich sechs war und er vierzig.
    »Mir will es immer noch nicht in den Kopf. Ich kann ja verstehen, wenn du vor deinen Eltern verheimlichen willst, dass du die Lolita zu seinem Humbert Humbert spielst, aber ich kapier nicht, warum du es uns nicht erzählen konntest. Wir wären total auf deiner Seite gewesen. Ich meine, du hast uns so oft Leid getan, wir haben uns deinetwegen Sorgen gemacht und uns gefragt, warum du so eine Nonne bist...« Helen schüttelt den Kopf. »Und du hast dich die ganze Zeit von deinem Bücherwurm anbohren lassen...«
    Ich merke, wie ich rot werde. »Das stimmt gar nicht.«
    »Ach, komm schon.«
    »Ehrlich! Wir haben gewartet, bis ich achtzehn war. An meinem Geburtstag haben wir es gemacht.«
    »Trotzdem, Clare«, setzt Helen an, aber jemand klopft laut an die Tür, und eine tiefe Männerstimme fragt: »Seid ihr Mädels da drin vielleicht bald fertig?«
    »Fortsetzung folgt«, zischt Helen mir zu, als wir unter dem Applaus der fünf Typen, die im Flur Schlange stehen, aus dem Badezimmer treten.
    Henry ist in der Küche und lauscht geduldig einem von Lauras unglaublich sportlichen Freunden, der sich über ein Footballspiel ereifert. Kaum stelle ich Blickkontakt zu seiner blonden stupsnasigen Freundin her, schleppt sie ihn weg, um sich noch einen Drink zu holen.
    Henry sagt: »Sieh mal, Clare, da drüben sind kleine Punks!« Er zeigt auf Jodie, Lauras vierzehn Jahre alte Schwester, und ihren Freund, Bobby Hardgrove. Bobby trägt einen grünen Irokesenschnitt und das volle Zerrissenes-T-Shirt-Sicherheitsnadel-Programm; Jodie versucht eine Lydia Lunch zu sein, sieht aber lediglich aus wie ein schlecht frisierter Waschbär. Irgendwie würden sie eher auf eine Halloween-Party passen als auf eine Weihnachtsfete. Sie wirken verloren und zurückgezogen. Henry dagegen ist begeistert. »Mann. Wie alt sind die beiden wohl? Um die zwölf?«
    »Vierzehn.«
    »Moment, vierzehn, gerechnet von 1991, dann müssen sie ... du lieber Himmel, 1977 geboren. Wie alt ich mir vorkomme. Ich brauche noch einen Drink.« Laura kommt durch die Küche und trägt ein Tablett mit Wodka-Wackelpudding in Schnapsgläsern. Henry nimmt sich zwei und kippt sie in rascher Folge hinunter, dann verzieht er das Gesicht. »Igitt. Scheußlich.« Ich muss lachen. »Was meinst du, welche Musik sie wohl hören?«, fragt Henry.
    »Keine Ahnung. Wieso gehst du nicht rüber und fragst sie?«
    Henry macht ein erschrecktes Gesicht. »Ach, das geht doch nicht. Sie hätten Angst vor mir.«
    »Ich glaube eher, du hast Angst vor ihnen.«
    »Vielleicht hast du Recht. Sie sehen so zart und frisch und grün aus, wie junge Erbsen oder so.«
    »Warst du früher so angezogen?«
    Henry schnaubt verächtlich. »Wo denkst du hin? Natürlich nicht. Diese Kinder eifern dem britischen Punk nach. Ich bin ein amerikanischer Punk. Nein, ich stand eher auf den Richard-Hell -Look.«
    »Warum unterhältst du dich nicht mit ihnen? Sie wirken so einsam.«
    »Aber du musst mitkommen und uns vorstellen und meine Hand halten.« Vorsichtig schleichen wir durch die Küche, als wären wir Lévi-Strauss, der sich zwei Kannibalen nähert. Jodie und Bobby haben diesen

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