Die Frau die nie fror
Begrüßung herausschickt. Die Besatzung wird zuerst ihre Arbeit an Bord erledigen und dann vom späten Vormittag bis zum späten Nachmittag ein paar Stunden an Land haben. Zorina wies mich darauf hin, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei, die verlassenen Passagierkabinen gründlich zu reinigen. Als ich mit meinem Segeltuchbeutel voller Putzzeug einen Gang hinuntergehe, tauchen am anderen Ende die beiden Besatzungsmitglieder auf, die in meiner Kabine die Razzia durchgeführt hatten. Sie kommen näher, bleiben sehr dicht vor mir stehen – so dicht, dass ich die kalte Meeresluft riechen kann, die von ihren Sweatshirts ausgeht – und weisen mich an, ihnen zu folgen.
Sie führen mich zum Aufzug – anscheinend ist er jetzt nicht mehr tabu. Wir sinken in vergoldetem Luxus auf die unterste Schiffsetage. Die ganze Zeit denke ich, dass es ja genau so kommen musste. Ich sollte nicht überrascht sein. Sie wollen mir ein paar Fragen stellen, über meine Kamera und so weiter. Ich atme tief durch, stelle mir vor, wie ich klare, vernünftige Antworten gebe, die belegen, dass ich völlig unschuldig bin, egal was sie mir vorwerfen.
Als die Aufzugtür sich öffnet, nehmen die Männer mich zwischen sich, einer vor mir, der andere hinter mir. Wir gehen den Gang zum heißen, klappernden, höhlenartigen Maschinenraum hinunter. Wir durchqueren ihn komplett und betreten einen kleineren Raum voller elektrischer Schalttafeln, einem Generator und Ventilen. In der Mitte des Raumes befinden sich ein Metallstuhl und ein Metalltisch, leer bis auf vier Paar Handschellen.
Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne. Einer der Männer versperrt mir den Weg. Dann packen die zwei mich unter den Achseln und tragen mich, mit baumelnden Füßen, zum Stuhl. Sekunden später sitze ich, und die Hände werden mir auf dem Rücken gefesselt.
Dustin Hall kommt herein. Er trägt die marineblaue Jacke mit dem Logo aus gekreuzten Golfschlägern. Ihr Reißverschluss ist hochgezogen bis zu der Stelle, wo sein schmaler Hals sich wie ein farbloser Stängel zu seinem tulpenförmigen Kopf streckt. Die beiden Besatzungsmitglieder beziehen links und rechts hinter ihm Stellung und ragen über mir auf wie zwei Säulen.
»Pirio Kasparov«, sinniert Hall laut, als wäre mein Name ein interessantes Rätsel. »Ich habe Sie beschatten und von einem Privatdetektiv überprüfen lassen. Ich besitze inzwischen ein Dossier über Sie, auf das selbst das FBI stolz wäre.«
»Ja. Ich wette, Sie kennen jedes einzelne Buch, das ich je bei Amazon gekauft habe, und den Standort aller meiner Lieblings-Geldautomaten.«
»Ihre Mutter war ein berühmtes Model und starb, als Sie zehn Jahre alt waren. Ihr Vater und seine neue Frau haben Sie aufs Internat geschickt, wo Sie konsequent die Schulversagerin mit disziplinarischen Problemen gegeben haben. Anscheinend hatten Sie auch ein psychisches Leiden, was möglicherweise immer noch der Fall ist. Nach der Schule haben Sie die UMass Boston besucht und sind derzeit bei dem Parfümunternehmen Ihrer Familie beschäftigt, das Sie eines Tages erben werden.«
»Nicht schlecht. Können Sie auch in die Zukunft sehen? Ich wüsste gern, ob ich einen Prinz heirate.«
»Ich nehme an, das ist durchaus möglich. Das hier ist ein Märchen, dessen Ende Sie sich selbst aussuchen können. Ich verrate Ihnen jetzt mal Ihre Auswahlmöglichkeiten. Erstens, Sie erzählen mir, was ich wissen will, und setzen dann Ihr bisheriges Leben fort. Oder zweitens, Sie sterben noch heute, und Ihre Leiche wird niemals gefunden.«
»Hmmm. Unwahrscheinlich. Beide Optionen sind irgendwie ziemlich öde und viel zu naheliegend. Ein wirklich gutes Ende ist doch eines, das man nicht kommen sieht. Also werden wir wohl einfach mal abwarten und sehen, was passiert.«
»Für eine mit Handschellen gefesselte Person sind Sie erstaunlich vorwitzig.«
Hall wirft dem Besatzungsmitglied rechts neben sich einen Blick zu – dem Dicken mit den Schweinsaugen, aufgepumpten Muskeln und winzigen Händchen –, und mich beschleicht ein ziemlich ungutes Gefühl. Entsetzt beobachte ich, wie der Kerl um den Tisch tritt und kurz die Faust hebt, als wolle er sie untersuchen. Dann boxt er mir hart in den Bauch. Bevor ich nach Luft schnappen kann, schlägt er wieder zu. Eine Erfahrung, die der Redewendung sich die Seele aus dem Leib kotzen eine völlig neue Bedeutung verleiht.
»Wirklich, Ms Kasparov. Können Sie es sich leisten, so unkooperativ zu sein? Sehen Sie sich um. Vergessen Sie nicht, wo
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