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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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den Mund. Er glaubt, der harte Teil des Schwanzes, den die meisten Leute auf dem Teller liegen lassen, sei gut für die Verdauung. Langsam zermalmt sein Kiefer die Schale, mit einer rotierenden Bewegung wie bei einer Ziege.
    »Und natürlich tut es uns leid wegen deines Freundes«, fügt Maureen hinzu. Einer ihrer liebsten Irrtümer besteht darin, dass sie und Milosa in Gefühlsdingen etwas gemeinsam haben.
    »Wie hast du es geschafft zu überleben?«, will Milosa wissen.
    Ich muss lächeln. Das ist immer seine Frage: Wie? Er käme nie auf die Idee, Gott zu fragen, warum es menschliches Leid gibt. Er würde wissen wollen, wie das Universum entstanden ist. Und bei der Antwort würde er genau zuhören, denn im Hinterkopf stellt er sich die Frage, ob er es nicht vielleicht selbst hinbekäme. Jetzt sind seine hellen Augen inquisitorisch auf mich gerichtet und warten auf meine Antwort.
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Maureen lacht, als hätte ich etwas Charmantes gesagt. »Du musst eine gute Schwimmerin sein.«
    »Ganz anständig, nehme ich an. Ich schwimme dreimal pro Woche eine Meile im YMCA . Aber das weißt du doch.«
    »Natürlich. Wie dumm von mir.«
    Milosa sieht mir direkt in die Augen. »Wie eine Katze bist du dem Tod entkommen. Du musst irgendetwas gemacht haben.«
    »Ich habe stundenlang auf einem treibenden Wrackteil ge­legen.«
    »Nein, wenn du nichts getan hättest, wärst du gestorben. Vielleicht war es nur ein Gedanke oder eine Entscheidung. Aber du hast irgendetwas getan, um zu überleben.«
    Während ich Zitrone auf einen Shrimp spritze, erzähle ich, dass mir sehr kalt und ich sehr nass war und die Küstenwache mich herausgefischt hat.
    Er sieht mich entrüstet an. »Ty ne byla gotowa umeret« , behauptet er beharrlich. Du warst noch nicht bereit zu sterben .
    Mir wird klar, dass Milosa durch meine Erfahrung einen versteckten, irrationalen Glauben bestätigt sehen will: Nicht, dass ich, Pirio, noch nicht bereit zum Sterben war. Sondern dass man nicht sterben muss, bis man dazu bereit ist. Dass ausreichend starrköpfige Individuen selbst bestimmen, wo es langgeht. Men­schen wie er.
    Er führt einen weiteren gekringelten Shrimp zum Mund, und mir fällt auf, dass seine Augen ungewöhnlich stumpf und glasig sind. Milosa wird häufig viel jünger geschätzt als siebzig. Er hält sich mit Squash und Schwimmen fit (was er mir als Kind bei­ge­bracht hat) und nimmt eine ganze Batterie von Nahrungs­er­gän­zungsmitteln, die pro Tag mehr kosten, als die meisten ­Familien in einer Woche für Lebensmittel ausgeben. Alle drei Monate geht er zu einem der gefragtesten Ärzte Bostons und lässt sämtliche teuren Tests durchführen, die ohne Ausnahme zeigen, dass er sich bester Gesundheit erfreut. Milosa hat fürchterliche Angst davor zu sterben. Die Aussicht einer Niederlage kann er nicht ertragen.
    »Ach, lasst uns nicht über solche Sachen reden«, sagt Maureen mit einem leichten Schaudern.
    Dann verkündet sie, ihre neue Produktlinie für Teenager-Mädchen käme gut voran. (Wann immer wir emotionalen Her­ausforderungen gegenüberstehen, wechseln wir Kasparovs das Thema und sprechen über die Arbeit.) Sie will sie Sweet Surprise nennen. Es wird fruchtig sein – mit der Kopfnote Grapefruit und der Basisnote Mango. Frisch und frech, fröhlich und ungestüm. Zielgruppe: Kids und junge Teenager, daher preiswert und heiter verpackt, in Wassermelonen-Pink und -Grün. Erstes Produkt für den Markteinstieg: ein Eau de Toilette, danach, in schneller Folge, flankierende Produkte – ein Gel, Talkum und Duschgel, mit möglichen Spin-offs wie Waschlotion fürs Gesicht und dieses Lipgloss in Tuben, ohne das man kein Mädchen mehr sieht. Alles wird über Drugstoreketten verkauft, mit kostenlosen Duft­rubbel-Karten und Einzelaufstellern. Demnächst muss über die endgültige Zusammensetzung entschieden werden, die den Pro­duktionszeitplan und das Erscheinungsdatum vorgibt. Maureens Herzenswunsch ist jetzt ein berühmtes Promigesicht.
    Ich sage zu, bei dem entscheidenden Meeting für die Zusammensetzung mit dabei zu sein, wenn sie so weit ist.
    »Denk daran, wir reden von Kids und jungen Teenagern«, erinnert sie mich.
    »Mit anderen Worten, fruchtig.«
    »Genau.« Sie scheint erleichtert darüber, mich an Bord zu wissen, und wirft Milosa einen gespannten Blick zu, der bisher noch nichts gesagt hat.
    Jeffrey hat die Teller des Hauptgangs abgeräumt und serviert seine berühmte, fettarme Zitronencreme, während Maureen und

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