Die Frau die nie fror
ich unser Gespräch über die neue Linie beendet haben.
Maureen sieht ihren Ehemann einige nachdenkliche Sekunden lang an. Seine Schultern hängen herab wie bei einer Taube, und sein Löffel klappert unbeholfen gegen die kleine Dessertschale aus Porzellan. Die Worte, die ihr auf der Zunge liegen, fallen nicht, und sie macht ein offensichtlich enttäuschtes, langes Gesicht. Maureen wünscht sich seine Unterstützung, seine Bewunderung, doch sie weiß, dass sie die nicht bekommen wird, wie immer. Er hat sie geheiratet, doch er liebt sie nicht und behält seine Gefühle grundsätzlich für sich. Schatten gleiten über ihr Gesicht, vielleicht aufblitzende Erinnerungen an vorangegangene Kränkungen. Ihr Unterkiefer verkrampft sich, sie beißt sich auf die Lippe. Ich habe sie vorher schon an diesem Punkt gesehen – darum ringend, den gähnenden emotionalen Abgrund auszugleichen, der sich zwischen ihr und dem Mann erstreckt, den sie immer noch versucht zu lieben.
Maureen hat die kalorienarme Creme noch nicht einmal angerührt und scheint sie nun widerwärtig zu finden. Sie wirft ihre Serviette auf den Tisch und mir eine scharfe Frage zu, während sie Milosa anfunkelt: »Wenn wir den persönlichen Duft deiner Mutter finden würden, glaubst du, dein Vater wäre dann interessiert?«
Milosa hebt den Kopf, sieht sie einen Augenblick regungslos an und isst weiter sein Dessert. Maureen stürmt aus dem Esszimmer.
Ein weiteres Familienessen bei den Kasparovs.
Kurz darauf verlässt auch Milosa den Raum, und ich bleibe zurück, nippe an meinem Kaffee, den Jeffrey mir serviert hat, und bin froh, ein paar Minuten für mich zu haben. Ich habe eine nicht unbeträchtliche Zeit mit dem Versuch verbracht, die Geschichte meiner Eltern aus den ganzen zufälligen Einzelheiten zusammenzustückeln, die ich als Kind mitbekommen und die ich aus Leuten herausgequetscht habe, die beide gut kannten. Die zwei hatte immer schon eine geheimnisvolle Aura umgeben, vermutlich entstanden aus Scham. Bisher weiß ich so viel: Milosa wurde in einem gottverlassenen Dorf geboren, dessen Namen er angeblich vergessen hat, in eine Familie hinein, die er kaum erwähnt. Sowie er dazu in der Lage war, ging er nach Moskau, hungrig auf die Annehmlichkeiten des Kapitalismus. Er sagt, er hätte eine Model-Agentur gegründet, aber vermutlich war er eher als Zuhälter tätig. Ich habe versucht, ihn dazu zu kriegen, es zuzugeben, aber er weicht dieser Frage sehr geschickt aus. Auf alle Fälle war einer seiner Kunden ein berühmter amerikanischer Designer, und bald belieferte Milosa die New Yorker Modewelt mit slawischen und baltischen Schönheiten.
Meine Mutter war eine davon, eine eins achtzig große, neunzehn Jahre alte Estländerin, deren Eltern während der sowjetischen Besetzung nach Sibirien deportiert wurden. Sie wuchs in Tallinn bei einem Onkel auf, der Maurer war und sie auf eine Weise schlecht behandelte, die ich nur erahnen kann. Wie auch Milosa floh sie, sobald sie konnte.
Beide liebten sich von Anfang an leidenschaftlich, was zwei turbulente Jahrzehnte lang so blieb. Sie setzten alles auf ihre Karriere als Model und gingen zusammen nach Amerika. Dort entschieden sie sich für Boston, in der Annahme, sie hätten dort mehr Ruhe als in New York. Doch ihre langen Abwesenheiten, der kometenhafte Aufstieg und die vielen verlangenden, auf sie gerichteten Blicke machten ihn furchtbar eifersüchtig. Je mehr er versuchte, sie zu kontrollieren, desto unabhängiger und launenhafter wurde sie und verspottete ihn beinahe mit ihrem Erfolg. Er wünschte sich eine traditionelle Hochzeit, und natürlich wies sie ihn ab. Erst als er verstand, welche Leidenschaft sie für die Kreation von Düften hegte, und ihr zeigte, wie man aus diesem Hobby ein existenzfähiges und dann erfolgreiches Geschäft aufbauen konnte, willigte sie in die eheliche Verbindung ein. Und so erlangte sie, Ende zwanzig, mit meiner Ankunft die genaue Kopie eines gefestigten Lebens.
Wenn meine Mutter das Herz und die Seele von Inessa Mark, Inc. war, dann war er der Kopf. Er verhalf ihrer Firma ans Licht, Betonung auf Licht . Sein Reich lag im Schatten, wohin zu blicken sich niemand die Mühe machte. Seine Buchhaltung erfasste höchstens das Minimum von dem, was der Staat verlangte, und davon war das meiste, nehme ich an, fiktiv. Niemand wusste genau, was er trieb – höchstwahrscheinlich hatte er mehr als nur ein Geschäft. Wir sahen lediglich die spektakulären Ergebnisse.
Obwohl meine Eltern
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