Die Frau die nie fror
der Küstenwache gegeben, die sich himmlisch anfühlte. Über meinen Schultern lag eine warme Decke. Ich fand alles süß und schick, selbst die wässrige, heiße Schokolade, die der vernehmende Beamte mir in einem Pappbecher servierte.
Als er seine Grübchen-Fingerknöchel knacken ließ und mir versicherte, man würde sofort mit einer gründlichen Untersuchung anfangen, war ich so weit, dass man mir ein Stofftier geben und mich hätte ins Bett stecken können. Ich hatte keine Gehirnzelle mehr übrig, um der Vorgehensweise zu folgen, die er mir erläuterte – es hatte etwas mit dem Logbuch des Schiffes zu tun, Sachbeweisen und einer sich offiziell anhörenden Behörde. Ich bekam nur mit, dass ich nach Hause gehen und mir keine Sorgen machen sollte. Und das klang ziemlich gut.
Mein alter Saab rollt die Stuart Street hinunter, durch Chinatown, weiter Richtung Hafen und schließlich die Atlantic Avenue rauf ins North End. Es ist ein kühler, grauer Tag in Boston. Wie meistens. Ich parke in der Garage, durchquere die Schwärme von Touristen, die am Kai entlangspazieren. Das Gebäude der Küstenwache ist ein schlichter Ziegelsteinquader mit ein paar Dreiecksformen aus Glas und Stahl oben auf dem Dach. Ohne dieses modernistische Architekturzeugs ist es so nüchtern und geradlinig wie der Bürstenschnitt eines Seemanns.
Ich habe heute Morgen im Internet nach Cavalieri gesucht, und als er sich vorstellt, fühlt es sich an, als wäre er ein Bekannter. Das Foto im Netz sah nett aus und war ungefähr zehn Jahre alt. In Wirklichkeit stehen seine Augen dichter beieinander, seine Spalte im Kinn ist weniger stark ausgeprägt und sein Nacken nicht so fleischig. Sein Büro ist genauso bedrückend funktional wie alles andere in dem Gebäude.
»Es tut mir leid wegen Mr Rizzo«, sagt Cavalieri und geleitet mich zu einem Stuhl. Er begibt sich hinter seinen Schreibtisch. Er versucht, mich nicht unter die Lupe zu nehmen, was ihm nicht gelingt, und ist nicht raffiniert genug, damit es unbemerkt bleibt. Ihm scheint zu gefallen, was er sieht, denn als er sich setzt, lächelt er viel zu breit für jemanden, der gerade sein Beileid ausgesprochen hat.
»Vier Stunden in sechs Grad kaltem Wasser. So etwas habe ich noch nie gehört. Und viel Fett haben Sie auch nicht gerade auf den Knochen«, sagt er und nutzt erneut die Gelegenheit, meinen Körper in Augenschein zu nehmen.
»Ich habe mir eine Rippe geprellt«, sage ich, was stimmt. Es tut immer noch weh.
Sein Lächeln wird breiter, als wäre er von meiner geprellten Rippe zusätzlich beeindruckt.
Meine Rippe hört ihren Namen und fängt an zu schmerzen.
»Zweitausendsiebenhundert Schiffe passieren jedes Jahr diesen Hafen«, erklärt Cavalieri. »Das sind ungefähr sieben oder acht pro Tag. Am 7. September waren drei zum entsprechenden Zeitpunkt in diesem Gebiet, aber alle in den ausgewiesenen Fahrrinnen und zwischen drei und sechs Seemeilen von dem Punkt entfernt, an dem Sie gefunden wurden. Wir haben ein paar Tage nach dem Ereignis die Rümpfe der Schiffe im Bereich der Wasserlinie fotografiert und keinerlei forensische Hinweise, keine Farbabplatzungen, Kratzer oder Beulen gefunden. Es wurden schriftliche Stellungnahmen des Kapitäns, des Ersten und Zweiten Offiziers und des Ersten Maschinisten eines jeden Schiffes eingeholt und der Akte hinzugefügt. Sie alle bestreiten, an dem Unglück beteiligt gewesen zu sein. Die Logbücher der Schiffe enthalten keine besonderen Einträge und passen wie erwartet genau zu den Positionen, die vom VMS , dem automatischen Überwachungssystem für Fischereischiffe, aufgezeichnet worden sind. Satellitenfotos sind wegen des Nebels nicht zu gebrauchen.«
Er macht eine Pause. »Bei der Suche wurde das EPIRB Ihres Bootes geortet – es war bereits ein paar Meilen weggetrieben, als wir es gefunden haben.«
» EPIRB ?«
»Eine Notfunkbake, ein kleines Gerät, das bei Wasserkontakt aktiviert wird und ein Funksignal sendet. Leider werden diese Signale nicht ständig so eng überwacht, wie sie sollten.« Er sieht mich pflichtbewusst entschuldigend an. »Dort, wo man Sie aufgegriffen hat, hat man sonst nicht viel gefunden. Nur ein paar hölzerne Wrackteile, eine nicht aufgeblasene Rettungsinsel und einen Ölfleck. Die Rettungsinsel hat sich wahrscheinlich deshalb nicht aufgeblasen, weil sie in den Halterungsgurt verwickelt war.«
»Was für einen Halterungsgurt?«
»Das ist der Gurt, mit dem die Rettungsinsel am Schiff befestigt wird. Ein Fehler
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