Die Frau die nie fror
In diesem Augenblick wird mir klar, dass ich zehn Tage lang den Atem angehalten und auf Gerechtigkeit gehofft habe. Und auf Wahrheit, Trost – wie immer man es nennen mag. Nicht um meinetwillen, sondern für Noah. Als ich versucht habe, ihm im Taffy’s zu erklären, warum sein Vater gestorben ist, und dabei merkte, wie fadenscheinig und lächerlich sich alles anhörte, wurde mir klar, wie wichtig eine echte Erklärung ist. Denn wenn ein Elternteil schon durch einen bizarren Unfall ums Leben kommen muss, dann verdient das Kind danach ein gewisses Maß an Bemühen und Rechenschaft. Es verdient zumindest eine Entschuldigung von den Leuten, die es verbockt haben.
Ich frage Cavalieri, wie lange die Ermittlungen der NTSB dauern werden.
»Das hängt davon ab, was sie finden. Es kann alles sein, von ein paar Wochen bis zu einigen Monaten, selbst ein Jahr, wenn es kompliziert sein sollte. Sie arbeiten sorgfältig und langsam. Da fällt mir ein – Sie können helfen, indem Sie das hier ausfüllen.«
Er nimmt ein Klemmbrett mit ein paar Papieren von seinem Schreibtisch und gibt es mir. Das oberste Blatt ist Formular 157K3, Kollisionsbericht. Es sind mehrere Seiten in kleiner Schrift, und die Antworten müssen in die dafür vorgesehenen Leerzeilen eingefügt werden. Praktischerweise ist ein Kugelschreiber mit einer Kette an dem Klemmbrett befestigt.
»Ich habe Ihnen doch bereits alle Informationen gegeben.«
»Wir benötigen die Formulare für die Akte«, erklärt er verhalten entschuldigend. Seine Stimme wird sanft, als er sich anschickt, mich zu entlassen. »Ich möchte Ihnen versichern, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun. Sobald mir neue Informationen vorliegen, werde ich es Sie umgehend wissen lassen.«
»Was ist mit Mr Rizzos sterblichen Überresten?«
»Wir sind nicht dafür ausgerüstet, Leichen in so tiefen Gewässern zu finden. Die Navy wäre mit Spezialtauchern oder einem Unterseeroboter dazu in der Lage, sie würden es aber nur im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes tun.«
Ich stehe auf, und wir sind auf Augenhöhe. »Wie lauten die Namen der drei Schiffe, die am 7. September in der Nähe des Unglücksortes waren?«
Sein Kinn zieht sich einen Hauch zurück. Damit hatte er nicht gerechnet, aber er reagiert schnell. »Wir kümmern uns für Sie darum, Ms Kasparov.«
»Ich will es wissen.«
»Ich weiß, das ist schwer für Sie …«
»Ich will es wissen .«
Er taxiert mich wieder. Inzwischen muss er sich ziemlich sicher sein, dass ich mich nicht mit ihm nach der Arbeit auf irgendein Motelzimmer schleichen werde, denn er lässt seine Stimme auf eine kalte, behördliche Temperatur absinken. »Ich fürchte, es ist mir nicht gestattet, Ihnen diese Informationen zu geben.«
»Warum denn nicht? Das müssen doch öffentlich zugängliche Informationen sein. Das kann doch nicht angehen.«
»Die Situation ist heikel«, erwidert er und blinzelt langsam.
Ah, ich verstehe. Er will nicht, dass ich Kapitäne schikaniere, jemanden beschuldige, an Bord beschränkter Schiffe klettere und eine internationale Szene veranstalte. Ich lächle fast. Er wird mich für eine Frau in einem schwarzen Designerkleid halten, die besser auf der Newberry Street beim Shopping aufgehoben wäre. »Ist in Ordnung, Captain. Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich finde die Schiffe schon allein.«
Ein hartherziges Licht blitzt in Cavalieris Augen auf. »Wie Sie möchten.«
Er kommt zügig um den Schreibtisch herum und öffnet die Tür seines Büros. Ich sehe, wie die Sekretärin zur Seite schaut. Er zeigt auf eine Bank in ihrer Nähe, wo ich wahrscheinlich die Formulare ausfüllen soll.
Ich verlasse sein Büro, setze mich auf die Bank und platze fast vor Wut. Wenn es um mich ginge, würde ich die Formulare auf der Bank liegen lassen und gehen. Aber um Noahs willen nehme ich den Kuli.
Im ersten Abschnitt werden umfangreiche, aber nutzlose Informationen zu den Besatzungsmitgliedern an Bord des betroffenen Schiffes abgefragt. Ich sehe mir den Rest noch nicht einmal an, sondern zerknülle die Seite in meiner Hand und hoffe, dass Noah es verstehen würde. Meine Hände zittern, und mir wird bewusst, dass mich ein unterdrücktes Trauma aufwühlt – ich bin wütend, machtlos und immer noch zu Tode erschrocken.
Cavalieris Sekretärin betrachtet mich mitfühlend. »Gehen Sie nach Hause. Lassen Sie das Formular. Das liest sowieso kein Mensch.«
Ich seufze. Warum sind die vernünftigen Menschen nie die Verantwortlichen?
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