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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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Ich lege das Klemmbrett auf ihren Schreibtisch und die zerknüllte Seite obenauf.
    »Er hatte einen Sohn, ein ganz besonderes Kind. Vielleicht ist er ein Genie, ich weiß nicht. Seine Mom ist Alkoholikerin. Jetzt ist sein Dad tot. Was passiert mit so einem Kind?«
    »Sie überleben das irgendwie. Kinder sind widerstands­fä­hig.«
    Ich denke gründlich darüber nach. »Nein, sind sie nicht. Sie sind leicht zu verletzen und erholen sich nicht immer davon.«
    Sie nickt fast unmerklich und wendet die Augen ab. Kaum jemand ist in der Lage, darüber nachzudenken.
    Ich verlasse ihr Büro Richtung Haupteingang. Am liebsten würde ich der Kunstpflanze im leeren Eingangsbereich einen Tritt versetzen, tue es aber nicht. Solche Ausbrüche haben mich schon auf der Gaston School in Schwierigkeiten gebracht. Nachsitzen, Ausgangsverbot am Wochenende und so weiter. Eine Lehrerin sagte mal zu mir, Fuck you wäre nur ein vertrauter Ort, an den ich mich flüchte, wenn ich mich bedroht fühlte, genau wie das Bett, unter dem sich das verängstigte kleine Mädchen versteckt. Ich antwortete, dass mir das einleuchte. Jeder braucht einen sicheren Hafen, aber kaum jemand hat einen. Ich erinnere mich, dass ich zu ihr gesagt habe, es gäbe aber einen großen Unterschied zwischen dem Fußboden unter dem Bett und dem Fuck you . Sie seien sich eigentlich überhaupt nicht ähnlich. Der Boden unter dem Bett ist dunkel und staubig. Fuck you hingegen ist ein greller, heißer Ort.
    *
    Die Sonne geht ohne großes Tamtam hinter tiefen Wolken unter. Ich fahre Richtung Süden, dann nach Osten in das Hafengebiet. An der Lagerhalle der Post vorbei, einem Fischgroßhandel, einer Spedition und einer Bootswerft. Zu meiner Linken liegt der Bostoner Hafen, bedeckt mit einer Ölschicht. Darin schaukeln träge vier oder fünf große Schiffe. Keines davon ist silberfarben oder grau. Jetzt erinnere ich mich, dass das Schiff, das die Molly Jones gerammt hat, zuerst schwarz wirkte, aber auch dunkelblau sein könnte. Das Silberne war vielleicht nur der Nebel. Erinnerungen an die Kollision tauchen in Bruchstücken auf und verschwinden einen Augenblick später wieder. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unsicherer werde ich.

Kapitel 7
    M ittwochmorgen bin ich das erste Mal seit dem Unglück wieder im YMCA . Ich stehe am Rand des Schwimmbeckens und starre zweifelnd in das türkisfarbene Wasser. Auch die Tatsache, dass es nur einen Meter fünfzig tief ist, kann meine Angst nicht bezwingen. Die anderen Bahnen sind von Leuten belegt, die wie ich vor der Arbeit schwimmen gehen. Die meisten davon kenne ich vom Sehen. Wir Stammgäste reden zwar nicht viel miteinander, aber wir kennen uns. Ein Mann in einer Badehose kommt aus der Umkleidekabine, sieht sich um und setzt sich auf die Bank. Er ist der Erste in der Reihe, wenn eine neue Bahn frei wird. Wenn ich nur hier herumstehe, wird er zu Recht un­geduldig. Ich muss jetzt entweder springen oder die Bahn frei machen, und wenn ich das täte, hätte die Angst über mich einen Sieg errungen und es würde doppelt schwer werden herzukommen.
    Also springe ich. Die ersten Bahnen sind wie das erneute Durchleben eines Alptraumes (genau genommen durchlebe ich einen Alptraum), aber dann, langsam, wird es einfacher. Meine Schwimmzüge kehren zurück, mein Körper fühlt sich wieder geschmeidig und kräftig an. Rhythmisches Atmen beruhigt mich, und das Wasser wird wieder zu meinem natürlichen Element, zu einem perfekten Ganzkörper-Streicheln. Tränen der Dankbarkeit rinnen aus meinen Augen. Mit mir ist alles in Ordnung. Mein altes Selbst ist immer noch da – das gute, offene, ­anmutige Ich. Eine Stunde lang schwimme ich mit wachsender Begeisterung meine Bahnen rauf und runter. Ich liebe das Schwimmen. Wenn ich diese eine Sache nicht machen könnte, wüsste ich nicht, wer ich bin.
    Ich fühle mich so gut, dass ich im Büro anrufe und mich krankmelde, als ich wieder zu Hause bin. Da ich mir gestern bereits den Nachmittag freigenommen habe, ist es einleuchtend, wenn ich heute krank bin. Es wird sowieso niemand in Frage stellen, bin ich doch die rechtmäßige Erbin der Firma. Ich ­mache es mir in einer Jogginghose gemütlich und nehme eine große Kanne Kaffee und ein Drei-Eier-Omelett mit vor den Com­puter. Zum Teufel mit Cavalieri und seiner Heimlichtuerei. Es kann ja wohl nicht so schwer sein, drei Frachter zu finden.
    Ich surfe im Netz und gebe alle möglichen Begriffe ein, die mir gerade in den Kopf kommen: Boston Harbor,

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