Die Frau die nie fror
Fahrrinnen, Kollisionen auf See usw. Ich lerne etwas über Ladekapazitäten und wie man einen Schiffsfrachtbrief ausfüllt. Ich erfahre etwas über den korrekten Ablauf der Entladung eines Containerschiffes, die genaue Rolle des Zollbeamten und darüber, wie eine Million Tonnen Stahl von der Größe eines Häuserblocks durch ein kompliziertes System von Schleusen manövriert werden sollte. Ich finde heraus, dass 242 Containerschiffe, 32 Autotransporter, 481 ConBulk-Schiffe und 113 Kreuzfahrtschiffe 2012 im Hafen von Boston angedockt haben. Irgendwann tauchen Farbbilder der verrosteten Kriegsbeute einer im achtzehnten Jahrhundert gesunkenen spanischen Galeone auf. Dann befinde ich mich plötzlich Auge in Auge mit einem Quastenflosser.
Mit anderen Worten, ich finde nichts, was mich zu dem Schiff führt, das die Molly Jones versenkt hat, und stumpfe darüber mental langsam ab. Trotzdem klicke ich weiter. Wahrscheinlich suche ich nur an den falschen Stellen, aber ich würde die richtige noch nicht einmal erkennen, wenn sie vor mir auf dem Bildschirm festgefroren wäre. Ich lese wahllos, lerne wahllos und beende wahllos. Gehe überallhin und nirgends. Einige Stunden lang liege ich im zwanghaften, seelentötenden Krieg mit dem Informationszeitalter.
Ich verliere.
In Ordnung. Genug. Ich löse mich von meinem Computer, putze die Küche, werfe eine Maschine mit Wäsche an. Ich starre aus dem Fenster, ohne den blauen Himmel und die Bäume in der Allee zu sehen. Ich brauche einen Menschen, einen Insider. Da fällt mir Johnny ein. Auf der Beerdigung hatte er mir seine Nummer gegeben und gesagt, ich sollte nicht zögern, ihn anzurufen, wenn ich irgendetwas bräuchte. Ich bin mir nicht sicher, was er damit meinte, aber in diesem Augenblick fühlt es sich so an, als sollte ich den einzigen Kontakt, den ich in der Welt der Fischerei habe, nutzen. Ich rufe an und hinterlasse eine Nachricht auf seinem Mobiltelefon. Eine halbe Stunde später ruft er zurück und schlägt vor, ich solle um vier Uhr zu ihm nach Hause in Dorchester kommen.
Damals, in der bösen alten Zeit, haben Johnny und ich immer bei Vollmond draußen auf der Mole in Scituate gesessen, wo seine Eltern ein Ferienhaus hatten. Wir waren in gelbes Mondlicht getaucht, haben an einer Flasche Jack Daniels genippt und uns halbwahre Geschichten ausgedacht und erzählt. Die Flut setzte ein, schwarze Wellen krochen immer weiter die Steine hoch, bis wir von schäumendem Seewasser umringt waren. Schließlich beschlossen wir, zurück zum Strand zu gehen, nicht wissend, ob nur ein Teil oder bereits die ganze Mole überflutet war. Wir suchten uns unseren Weg über glitschige Felsbrocken, während die Wellen darüber hinwegschlugen und sprühende, kalte Fontänen hochschossen. Wir redeten nicht viel, damit man uns die Angst nicht anmerkte. Wir hätten festsitzen oder jede größere Welle hätte uns umwerfen können, aber genau darum ging es uns ja. Der Adrenalinkick der drohenden Gefahr. Je näher wir dem Strand kamen, desto waghalsiger wurden und desto schneller liefen wir. Als wir dann durch seichtes Wasser plantschten, rannten wir bereits, fielen hin und zogen uns gegenseitig an den Armen aus der niedrigen, aufgewühlten Brandung. Nass bis auf die Knochen und mit Salz in der Nase ließen wir uns in den höheren Lagen des Strandes fallen, wo die sanften, Schutz bietenden Dünen begannen. Dort reichten wir die Flasche hin und her, bis sie leer war.
Wir schälten uns aus den nassen Klamotten und schliefen miteinander. Wir liebten uns hemmungslos, Johnny und ich. Dann fielen wir erschöpft auf den Rücken, zwei sandverkrustete Amphibien unter einem fernen Mond. Manche Menschen meiden das Risiko, andere brauchen es, um sich lebendig zu fühlen. Sich zum Abgrund hingezogen zu fühlen war ein Rätsel, das Johnny und ich einander nicht zu erklären brauchten. Also, ja, es bestand eine gewisse Verbindung. Eine destruktive vielleicht, besonders wenn man den Alkohol mit einrechnet. Aber Verbündete sind Verbündete. Und wenn man jung ist und noch nicht gelernt hat, mit sich allein zu sein, scheint selbst eine destruktive Verbindung besser als gar keine.
*
Er wohnt in einem freistehenden Einfamilienhaus hinter dem Bezirksgerichtsgebäude. Die Bäume in seiner Straße wurden offenbar erst kürzlich gepflanzt und sind gerade mal zweieinhalb Meter hoch und dünn wie ein Handgelenk. Ich parke neben einem zerbeulten Briefkasten, der mit Blumen-Abziehbildern beklebt ist. Als ich
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