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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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und gehen durch die Rotunde. Ich trage ein schwarzes Sweatkleid mit Wasserfall-Ausschnitt, dazu einen grünen Wildledergürtel und eine Schlägermütze mit Hahnentrittmuster. Meine Haare werden von einer Klammer an meiner linken Schulter zusammengehalten und fallen dann locker bis zu meiner Taille. Viele Leute sehen mich an, besonders Männer. Niemand hat einen Blick für Mrs Smith. Sie sehen einfach durch sie hindurch, um sie herum, um mich zu betrachten. Natürlich bemerkt sie davon nichts. Die Krümmung ihres Rückens ist nicht sehr ausgeprägt, dennoch hält sie den Kopf leicht gesenkt und schaut mit den schlechter werdenden Augen auf den unspektakulären Boden.
    Mir kommt in den Sinn, dass ich mich noch gar nicht erkundigt habe, warum sie mir so viele, womöglich belastende Informationen über eine Firma anbietet, der gegenüber sie immer noch loyal ist – und dass ich sie, auf andere Art, ebenfalls nicht bemerkt habe. Als wir in den frischen Spätseptembernachmittag hinaustreten, unsere leichten Mäntel über dem Arm, frage ich sie.
    Sie schaut auf und lächelt. »Ganz sicher ist man sich nie, oder? Warum wir etwas tun? Aber so viel kann ich sagen: Es gibt in dieser Branche Dinge … Ich meine, Wege  … Nein, es gibt Dinge  …« Ein Seufzer. »Ach, wie ärgerlich. Die Wahrheit ist, man klammert sich an das, was man hat. Man lernt zu schätzen, was übrig ist. Von einem selbst, meine ich, wenn der ganze Rest nicht mehr zählt.«
    Sie sieht mich an und sucht nach Bestätigung. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. In Wahrheit hat mich ihre verwirrte und verwirrende Antwort etwas erschreckt.
    Mein Gesichtsausdruck kann sie nicht täuschen. »Es tut mir leid, Liebes. Ich bin nicht mehr ganz unter euch.«
    Ich nicke, und sie tätschelt beruhigend meinen Arm, als wäre ich die Bedauernswerte.
    »Aber keine Sorge«, fährt sie lebhaft fort, »ich lasse keine Töpfe auf dem Herd stehen oder irre im Schlafanzug auf der Straße herum. Ich bin nur … nun, manchmal bin ich einfach nicht ganz sicher, wo ich bin. Oder warum. Die Ärzte sagen einem nicht, wie viel man schon verloren hat. Sie behalten einen nur im Auge. Ich trainiere mein Gedächtnis, damit mir das, was ich noch habe, auch bleibt. Aber es scheint nicht viel zu nützen. Alle Menschen, die ich früher kannte – ich bin mir nicht einmal mehr sicher, was ihre Namen angeht. Männer, die ich geliebt habe – und ich sage Ihnen, ich hatte meine Liebschaften …« Ihre Worte verklingen. Während ihr Verstand weiter auf Wanderschaft geht, lächelt sie kläglich in sich hinein und flüstert: »Das sind Erinnerungen, die ich sehr gern behalten hätte.«
    Jetzt habe ich Zweifel, ob überhaupt etwas von dem, was sie mir über Ocean Catch erzählt hat, richtig ist. Und was die Erinnerungen an Männer angeht, frage ich mich, ob sie gerne meine hätte.
    »Was ich aber eigentlich sagen wollte … Wo mich jetzt alles verlässt, habe ich das schätzen gelernt, was ich zu wissen meine.«
    Ich warte einen Herzschlag. Zwei Herzschläge. »Und das ist …?«
    »Und das ist, was Sie herausfinden werden. Falls es da ist, um gefunden zu werden. Dann bin ich keine alte Närrin, sondern zähle immer noch was. Warten Sie. Ich werde Ihnen etwas geben, das helfen wird.« Sie kramt in ihrem Segeltuchbeutel, holt einen Stift heraus und reißt ein Stück Papier aus einem Adressbuch. Sie hält den Bleistift sechs, acht, zehn Sekunden über dem Papier – wobei die Falten auf ihrer Stirn ständig tiefer werden. Schließlich reißt sie die Augen auf – angespannte, trockene Augen, die große Angst verraten. »Sehen Sie? Ich hab’s vergessen, das Passwort der Alarmanlage. Es ist weg.«
    »Ich bin sicher, es gibt eine Möglichkeit –«
    »Nein, eine andere gibt es nicht«, beharrt sie. »Die werden Ihnen niemals die Logbücher aushändigen, wenn Sie danach fragen. Sie müssen nachts hinein, wenn niemand da ist, und sie sich einfach nehmen. Wenn mir doch nur wieder dieses Passwort einfallen würde …«
    Als wir die Eingangsstufen des Museums hinuntergehen, nehme ich ihre Hand und bemerke, dass sie zittert.
    »Am Ende wird alles diesen Weg nehmen, nicht wahr? Ich meine, mein Verstand«, sagt sie.
    »Bitte, Mrs Smith. Ich bin sicher …« Aber ich rede nicht weiter, bin sprachlos.
    »Gott segne Sie dafür, dass Sie tun, was ich nicht kann«, flüstert sie.
    Mrs Smith lässt sich von mir nach Hause fahren, nach Jamaica Plain. Sie wohnt im Erdgeschoss eines dreistöckigen

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