Die Frau die nie fror
Hand planscht hilflos herum. Im grünlichen Wasser sieht meine Haut wie gebeizt und geschunden aus.
Als sich meine Atmung stabilisiert, lässt auch meine Angst ein wenig nach. Ich konzentriere mich darauf, tief und gleichmäßig Luft zu holen, auch wenn sich meine Lunge hinter den Rippen so dünn anfühlt wie Seidenpapier. Mein Sehvermögen ist seltsam getrübt. Die Leute am Rand des Beckens scheinen meilenweit entfernt zu sein. Sie stehen nebeneinander da, sehen zu mir, klein und gebeugt, wie Pinguine auf einer Eiskappe. Oder wie Seehunde oder Seelöwen – ich suche nach der passenden Gattung von Meereslebewesen. Als käme der Fisch in mir zum Vorschein, und ich könnte nur noch andere Wasserlebewesen erkennen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort schon hänge, als sich ein eigenartiges Gefühl von Wärme in mir ausbreitet. Als ergieße sich heißes Öl aus meinem Kern. Ich möchte weinen. Ich bin so dankbar. Ich bin etwas Besonderes! Mein Körper wehrt sich! Der unbändige Impuls zu schwimmen überkommt mich. Ich lasse das Floß los, drehe mich auf den Rücken, drehe mich wieder wie ein rotierender Baumstamm, ziehe unter den sanften Wellen, die ich verursacht habe, in kräftigen Zügen hinab, bis ich den Boden des Beckens berühre. Dann tauche ich wieder auf, hoch an die Luft, recke den Kopf vor und lasse Schultern und Arme sinken.
Das wärmende Gefühl ist vorübergehend. Ein heftiges Frösteln tritt an seine Stelle. Irgendwie erreiche ich wieder das Floß, kann mein klapperndes, zitterndes Kinn kaum über Wasser halten. Man könnte meinen, der Hals versuche den Kopf abzuschütteln. Der merkwürdige Drang, mich auszuziehen, überkommt mich. Ich reiße die Badekappe herunter und versuche, einen Träger des Badeanzugs von der Schulter zu streifen, aber ich trage Gurtzeug und Gürtel, und außerdem sind meine Arme und Beine ohnehin nicht koordiniert genug, um diese Aufgabe zu bewältigen. Immerhin bekomme ich einen Arm frei. Die Leute am Rand des Beckens gestikulieren und brüllen mir etwas zu, aber ich verstehe nicht, was sie sagen.
Mein geöffnetes Haar schwebt um mich herum wie dunkler Seetang. Was mich aus irgendeinem Grund beruhigt, und ich ziehe mich tief in mich zurück, an einen stillen Ort. Meine Phantasie beginnt eine Menge Bilder zu produzieren. Ich bin ein Wurm in einem Wurmloch, der sich durch die Erde hocharbeitet, ein Leopard, der über eine glitzernde knirschende Schneedecke geht. Dann bin ich eine Schlange, die sich armlos zusammenzieht. Um mich herum sind andere Schlangen, und sie alle fragen, Wo ist der Wind ? Schon seltsam, der herrliche Frieden, der mich überkommt. Den Instinkten zu folgen wie ein Tier, eine unter vielen, frei von der Bürde des Bewusstseins.
Jetzt dringt das heisere, unheimliche Bellen von Seehunden durch mein offenes Schlafzimmerfenster, und der intensive, feine Duft trocknenden Labrador-Tees weht aus der Küche herein. Meine nackten Füße tapsen über den warmen Holzboden, gehen um eine Ecke in einen hellen Raum. Sie blickt auf, lächelt, legt zur Seite, was immer sie gerade beschäftigt hat. Schließt mich in die Arme, hebt mich hoch zum Himmel, hält mich ganz fest. Ich bin etwas Besonderes, werde geliebt. Ja , antwortet mein Herz. So ist es. Ich bin dankbar für dieses Leben.
Dann wird alles schwarz. Keine Mutter, keine Blumen, keine bellenden Seehunde. Ich bin erwachsen, mir ist kalt und ich bin allein, krank und schwach. Um mich herum werden Schatten dunkler, länger, verschmelzen zu hektischen menschlichen Konturen. Schreckliche Leute, grausame Leute. Greifen mich von allen Seiten an. Da, in der Mitte. Jemand, den ich kenne. Mutter? Isa? Ich habe Angst. Er ist hier.
Auf einer Bank am Rand des Beckens komme ich wieder zu mir. Das Zittern ist so heftig, dass ich schon befürchte, meine Rippen geben gleich nach. Ich springe auf und werde sofort auf die Bank zurückgedrückt, man rät mir, sitzen zu bleiben. Um mich herum ist ziemlich viel Reden und Aufregung. Dinge werden bewegt und über meinen Rücken gezogen. Ich werde hochgehoben, mein Badeanzug wird abgestreift; unter jeden Arm drückt man eine Wärmflasche. Ein Bademantel wird mir übergeworfen, aber das genügt nicht. Ich lechze nach mehr. Eine vernünftige, kontrollierte Stimme spricht in klaren Sätzen zu mir: Der Test ist vorbei. Ich bin nicht in Gefahr. Ich hab’s mit Bravour überstanden. Man wird meinen Körper langsam aufwärmen, damit die Temperatur des Bluts in meinen Gliedmaßen nicht zu
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