Die Frau die nie fror
Zusammenstoß auf See ums Leben gekommen. Etwa zur gleichen Zeit ist die Sea Wolf mit einem Riss im Rumpf in den Hafen zurückgekehrt. Muss ich die Punkte noch verbinden?«
»Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass wir nicht von der Sea Wolf gerammt wurden.«
Er presst ungeduldig die Lippen aufeinander, hält aber den Mund. An seinem rechten Ohr klebt etwas getrocknetes Blut.
Bislang hat er mir nichts erzählt, was ich nicht schon wusste. Gelogen hat er allerdings auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich ihm vertrauen soll. Ich stehe vom Tisch auf und mache mich auf die Suche nach Informationen über den Mann, der behauptet, er heiße Russell Parnell. Der angrenzende Wohnraum ist dunkel, aber die Jalousien sind oben. Draußen ragt der Turm der Old North Church auf wie ein Mahnmal der amerikanischen Vergangenheit, hell angestrahlt von Scheinwerfern in dieser finsteren Nacht, schwarz wie Tinte. Ich schalte eine Standleuchte mit Schwanenhals ein. Kahle Wände, kein Couchtisch, kein Fernseher. Nur ein Bücherregal mit einer Menge Akten und Papieren sowie vielleicht zwei Dutzend Büchern. Auf einem kleinen Tisch ein aufgeklappter Apple-Laptop, ein Dutzend Karteikarten, vollgekritzelt in einer großen, ungelenken Handschrift. Eine kubistische Couch in urbanem Schwarz, wahrscheinlich von IKEA. Tatsächlich sieht’s aus, als wäre alles in diesem Zimmer von IKEA. Eine Instant-Wohnung für kleines Geld. Zwei Stufen über Durchreisender, eine Stufe über Collegestudent.
Ich werfe einen Blick auf das Bücherregal: Planet im Gleichgewicht, Die verschwindende Arktis, Wanderführer zu den White Mountains, The Elements of Style, La Cocina de Mama: Das Große Buch der spanischen Hausmannskost. Auf einem Regalbrett liegt ein großer, prächtiger Bildband über Wale. Die Bücher mit Umweltthemen sind schon ganz überzeugend, aber am meisten spricht das Buch Elements of Style dafür, dass er kein schlechter Mensch ist. Welcher Verbrecher schert sich auch nur einen Furz um den Unterschied zwischen was und das ? Und die Tatsache, dass er gerade erst von Oyster Man und seinen Schwachköpfen übelst zusammengeschlagen wurde, weckt in mir ein klein wenig mehr Zuneigung ihm gegenüber.
Der Schock, dass heute Abend Johnny mit dabei gewesen ist, steckt mir immer noch in den Knochen. Sein stupsnasiges Profil und der Bürstenschnitt, die kräftigen Arme, unmittelbar über seiner Wampe auf der Daunenweste verschränkt. Wie er kaltblütig zusah und seine Hände für die feine Arbeit an seinen Vogelhäuschen schonte.
Johnny war mir diese Nacht nicht zu Ocean Catch gefolgt. Um zwei Uhr morgens waren die Straßen so verlassen, dass ich einen Verfolger bemerkt hätte. Und er hat außerhalb des Firmenparkplatzes gewartet und nicht da, wo ich meinen Wagen abgestellt hatte. Er muss die Adresse des ungeladenen Beerdigungsgastes doch noch herausgefunden haben und die Wohnung von ein paar seiner Jungs überwachen lassen. Sie sind ihm zu Ocean Catch gefolgt, wo Johnny sich mit ihnen traf. Johnny wollte das Gebäude nicht betreten, als er den Wagen der Reinigungsfirma sah. Er hat außerhalb des Tors auf der Straße gewartet, wo er Parnell (ich kann ihn einstweilen ja ruhig so nennen) auflauern konnte.
Parnell – kleiner, mit nur einem Arm und kurzsichtig – kann es nicht mit John Oster aufnehmen. Als er gerade versuchte, den starken Mann zu markieren, ist mir aufgefallen, dass seine Stimme von unterdrücktem Entsetzen getränkt war. Ich gehe jede Wette ein, dass Gewalt kein fester Bestandteil seiner Welt ist. Das heißt: Was immer Johnny von dem vermeintlichen Journalisten haben will, wird er am Ende auch bekommen.
Als ich einen Blick in die Küche werfe, regt sich so etwas wie echtes menschliches Mitgefühl unter meiner Kruste. Parnell hat angefangen, Kaffee zu kochen. Ich vergleiche seine nutzlose Hand mit der gesunden und sehe die Anspannung in seinem erschöpften, teigigen Gesicht. Scheiße, Syphilis , erinnere ich mich. Aber es klappt nicht.
Ich kehre in die Küche zurück und erzähle ihm alles, was ich weiß. Ich berichte ihm von den geheimen Boni, dem Geschenk der Firma an Ned und was ich über den Streit an Bord der Sea Wolf zwischen dem Kapitän und einem japanischen Fischwirt gehört habe. Dann erzähle ich ihm auch, dass der Hauptangreifer ein Kerl namens John Oster war, ein enger Freund des verstorbenen Fischers Ned Rizzo und langjähriger Angestellter von Ocean Catch.
»Woher wissen Sie das?«
»Schwer, einen alten Freund
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