Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Papiertaschentücher im Taschenformat aufzustöbern, die man in den Staaten an jeder Tankstelle, in Zeitschriftenkiosken und Drugstores bekam. Hier schien es so etwas wie Drugstores nicht zu geben, nur Apotheken. Und falls man dort nach Papiertaschentüchern fragte – sofern man überhaupt dazu in der Lage war –, würde einen die streng dreinblickende Frau hinterm Tresen höchstwahrscheinlich auslachen. Oder Schlimmeres. Außerdem schienen hier alle Frauen, die hinter irgendwelchen Verkaufstresen standen, grundsätzlich streng dreinzublicken.
Sie ließ den Blick wieder über den Tisch wandern, auf dem ein weißes iPhone, ein schwarzes iPhone und ein blauer BlackBerry lagen. Ein BlueBerry gewissermaßen. Kate hatte es noch nicht geschafft, sich ein Handy eines hiesigen Anbieters zuzulegen. Und trotz gegenteiliger Zusicherungen des Mitarbeiters des Mumbaier Callcenters ihres in Colorado ansässigen Anbieters gab es keine Tastenkombination, Vorwahlnummer oder sonst etwas, um ihr in Frankreich entworfenes, in Taiwan hergestelltes und in Virginia gekauftes Handy dazu zu bringen, hier in Europa Anrufe entgegenzunehmen.
Das Leben war wesentlich einfacher gewesen, als sich andere Leute um ihre technischen Belange gekümmert hatten.
Das Einzige, was es auf diesem Tisch nicht gab, war Süßstoff. Das schien es hier nirgendwo zu geben.
Sie hatte das französische Wort für »Süßstoff« noch nicht gelernt, deshalb formulierte sie im Geiste die Frage »Gibt es für den Kaffee etwas, das wie Zucker ist, nur anders?« Sie versuchte sich zu erinnern, ob Zucker auf Französisch männlich oder weiblich war, weil sich die Deklination von anders dadurch verändern würde. War es tatsächlich so?
War anders überhaupt ein Adjektiv?
Doch die Frage »Gibt es für den Kaffee etwas, das wie Zucker ist, nur anders?« klang ohnehin komplett schwachsinnig, welche Rolle spielte es also, ob sie anders korrekt deklinierte oder nicht? Gar keine.
Natürlich stand auch ein Aschenbecher auf dem Tisch.
»Kate?« Die Italienerin sah sie an. »Hast du sie schon gesehen? Die neue Americana ?«
Verblüfft stellte Kate fest, dass die Frage ihr galt. »Nein.«
»Ich glaube, die neue Amerikanerin hat keine Kinder. Zumindest keine, die auf unsere Schule gehen. Oder sie gehört nicht zu denen, die sie zur Schule fährt und wieder abholt«, warf die Inderin ein.
»Genau«, bestätigte die zweite Amerikanerin am Tisch. Amber? Kelly? Irgendwas in der Art. »Aber ihr Mann ist echt heiß. Dunkler Typ, gut aussehend, das ganze Brimborium. Stimmt’s, Devi?«
Die Inderin schlug sich die Hand vor den Mund und kicherte, während sich eine leichte Röte auf ihren Wangen ausbreitete. »Oh, ich weiß rein gar nichts darüber, wie attraktiv dieser Mann ist, das kann ich dir mit Bestimmtheit sagen.« Kate war zutiefst beeindruckt, wie viele Worte diese Frau benutzte, um ein schlichtes »Na ja, geht so« zum Ausdruck zu bringen.
Sie fragte sich, was diese Frauen über sie und Dexter geredet hatten, als sie vor zwei Wochen am ersten Schultag aufgetaucht waren. Sie saßen in einem merkwürdigen Café mit niedriger Decke, das im Untergeschoss eines Sportclubs untergebracht war. Oben bekamen die Kinder gerade englischsprachigen Tennisunterricht von zwei schwedischen Trainern namens Nils und Magnus. Einer war hochgewachsen, der andere mittelgroß, und beide sahen genau so aus, wie man sich schwedische Tennislehrer vorstellte. Alle Tennislehrer hier schienen aus Schweden zu stammen. Dabei war Schweden über tausend Kilometer entfernt.
Die Frauen trafen sich jeden Mittwoch hier. Oder würden es in Zukunft tun. Vielleicht hatte das Ganze auch längst Tradition, nur Kate hatte es noch nicht mitbekommen.
»Kate, entschuldige bitte, ich weiß, ich habe dich schon einmal gefragt, also bitte verzeih, dass ich so unhöflich bin, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Wie lange habt ihr vor, in Luxemburg zu bleiben?«
Kate sah die Inderin an, dann die andere Amerikanerin, dann die Italienerin.
»Wie lange?«, fragte Kate sich selbst zum x-ten Mal. »Ich habe keine Ahnung.«
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»Wie lange werden Sie und Ihre Familie in Luxemburg bleiben?«, hatte Adam gefragt.
Kate hatte ihr Gesicht in dem riesigen Spiegel betrachtet, der die gesamte Wand des Vernehmungszimmers einnahm – offiziell wurde er als Konferenzraum bezeichnet, aber jeder wusste, wozu er in Wahrheit diente. Sie schob sich eine widerspenstige Strähne ihres kastanienbraunen Haars aus dem Gesicht. Kate
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