Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Handflächen waren feucht vor Schweiß. Es fiel ihr schwer, sich auf seine Scherze und die versteckten Andeutungen in seinen schlagfertigen Antworten zu konzentrieren, doch es spielte keine Rolle. Sie verstand auch so, was vor sich ging. Sie gestattete dem Ausschnitt ihrer Bluse, einen Spaltbreit auseinanderzufallen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und ließ sie einen Moment zu lange dort liegen.
Nach einer Weile nahm sie einen letzten Schluck von ihrem Bier und wappnete sich innerlich. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber. » Cinco minutos «, flüsterte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung der Kathedrale am nördlichen Ende des Platzes. Er nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das Verlangen in seinen Augen war unübersehbar.
Es schien endlos lange zu dauern, bis sie den Platz überquert hatte. All die Kinder und ihre Eltern waren längst nach Hause gegangen, sodass lediglich die Jugendlichen, die Alten und ein paar Touristen auf der Plaza zurückblieben, eingehüllt in Zigarren- und Marihuanaschwaden, während sich vereinzeltes englisches Lallen mit dem Gegacker der alten Weiber mischte. In den tiefen Schatten der Bäume standen Pärchen herum und knutschten und fummelten ohne jede Scheu.
Kate konnte nicht glauben, dass sie es wirklich tat. Ungeduldig wartete sie neben der Kathedrale auf ihn. Schließlich kam er und beugte sich erwartungsvoll vor, um sie zu küssen.
» No. « Sie schüttelte den Kopf. » No aquí .«
Schweigend gingen sie in Richtung des El Llano. Früher hatte das Gelände als städtischer Zoo gedient, heute jedoch war es nur noch ein einsamer, verwahrloster Park, in den Kate sich allein niemals hineingetraut hätte. Doch sie hatte keine Angst. Sie lächelte Lorenzo an und trat in die Dunkelheit. Er folgte ihr, ein Raubtier, dem seine Beute schon sicher schien.
Sie holte tief Luft. Es war so weit. Endlich. Sie trat vor einen dicken Baumstamm unter einem dichten Laubdach und wartete darauf, dass er ihr folgte, während ihre Hand in die Tasche ihrer weiten Baumwolljacke glitt.
Als er um die Ecke bog und neben sie trat, rammte sie ihm den Lauf in den Magen und drückte zweimal ab, noch bevor er wusste, wie ihm geschah. Er sackte zu Boden. Sie gab einen weiteren Schuss ab, diesmal in den Kopf, nur zur Sicherheit.
Lorenzo Romero war der erste Mann in ihrem Leben, den sie getötet hatte.
3
»Hast du sie schon gesehen?«, fragte die Italienerin. »Die neue Amerikanerin?«
Kate nippte an ihrem Caffè Latte und überlegte, ob sie etwas Süßstoff hineingeben sollte.
Sie konnte sich nicht genau an den Namen der Italienerin erinnern, Sonia oder Sofia. Oder Marcella? Sie wusste nur, dass die elegante Britin, die sich eine Viertelstunde zum Plaudern zu ihnen gesetzt hatte und dann wieder verschwunden war, Claire hieß.
Außerdem nahm sie an, dass die Frage nicht an sie gerichtet war, schließlich war sie doch die neue Amerikanerin.
Suchend ließ Kate den Blick über den Tisch schweifen, um von der Tatsache abzulenken, dass sie die Frage nicht beantwortet hatte. Es gab ein kleines Keramikgefäß mit weißen Zuckerwürfeln, daneben ein hohes Glas mit braunem Zucker – besser gesagt, mit bräunlichem Zucker, der so gar nicht wie der braune Zucker aussah, den man zum Backen von Brownies verwendete. Kate hatte nur ein einziges Mal Brownies gebacken, für eine Wohltätigkeitsveranstaltung in der Vorschule. Daneben standen ein Metallkännchen mit heißer, aufgeschäumter Milch und eine Glaskaraffe mit kalter.
Früher hatte Kate ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis gehabt – sie hatte sich gewissenhaft mit Mnemotechnik befasst –, aber sie war seit Jahren aus der Übung.
Es gab eine Plastikbox für die Bierdeckel mit einem barock anmutenden Wappen, einem Löwen und Wimpeln und schlangenartigen Tieren, einer Sonne und einem Halbmond, einem hohen Turm und kunstvollen schwarzen Buchstaben im gotischen Stil, die sie jedoch nicht entziffern konnte, weil der Bierdeckel auf dem Kopf stand und sie nicht einmal sagen konnte, um welche Sprache es sich handelte.
Außerdem stand auf dem Tisch ein Serviettenspender aus Metall. Die Servietten aus diesen Dingern waren dünn und zugleich sehr reißfest, auch wenn das auf den ersten Blick unmöglich schien. Erst kürzlich hatte sie sich dabei ertappt, dass sie Bens kleine Rotznase ständig mit diesen Servietten putzte, die es an jeder Ecke gab. Das Kind hatte sich erkältet. Und bislang war es ihr nicht gelungen, diese praktischen
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