Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
eine Frage. »Hmhm …«
»Deine Jungs sind noch hier. Sie sind die Letzten. Alle anderen sind längst weg.«
Scheiße! Kate sah auf die Uhr. Sie hätte sie schon vor einer Viertelstunde abholen sollen. »Tut mir wahnsinnig leid«, sagte sie und stand auf. Das erklärte auch den regen Verkehr vorhin – Mütter, die vom Einkaufszentrum in die Schule gefahren waren, um ihre Kinder abzuholen. »Danke, dass du mich angerufen hast, Claire. Ich bin in fünf Minuten da.«
Kate verstaute das Telefon in ihrer Tasche. »Ich muss meine Kinder abholen.«
Julia nickte. Mit einem Anflug von Verärgerung registrierte Kate, dass es wie eine Erlaubnis wirkte. Sie wandte sich um und ging zu ihrem Wagen, um sich auf den Weg zu ihren Kindern zu machen. Ihre Gedanken überschlugen sich, ein wilder Strudel, in dessen Zentrum eine neue Idee, ein neuer Plan Gestalt anzunehmen begann.
27
Es war zwei Uhr früh, als Kate aufwachte. Sie versuchte ein paar Minuten lang, wieder einzuschlafen, dann war ihr klar, dass es ihr nicht gelingen würde. Und eigentlich wollte sie es auch gar nicht. In Hausschuhen und Bademantel tappte sie nach unten. Das Apartment war kühl und still, erfüllt von Geheimnissen. Nicht, wie ein Zuhause sein sollte. Sie trat ans Fenster und starrte hinaus, in den tiefen Abgrund der Schlucht, durch die vereinzelte Autos fuhren.
Sie fuhr den Computer hoch und begann, Ordner und Dokumente zu öffnen – dieselben, die sie letzte Woche schon einmal durchforstet hatte. Danach rief sie erneut die Webseiten ihrer Banken auf. Auch hier war ihre Suche letzte Woche ergebnislos verlaufen. Also würde sie auch heute Nacht nichts finden. Aber genau so etwas tat eine argwöhnische Frau nun einmal, während ihr Mann im Bett lag und schlief. Sie musste es tun. Musste dabei beobachtet werden, wie sie es tat.
Um vier Uhr fuhr sie den Computer wieder herunter. Mit einem dicken Filzstift schrieb sie in gut lesbaren Blockbuchstaben eine Nachricht und ging nach oben. Wie immer warf sie im Vorbeigehen einen Blick ins Zimmer der Jungs, blieb einen Moment lang an ihren Betten stehen und sah ihnen beim Schlafen zu, sog ihre Unschuld tief ein.
Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, knipste die Leselampe an und starrte ihren Mann an, der mit leicht geöffneten Lippen im Bett lag und tief und fest schlief.
Sie stieß ihn an.
Dexter blinzelte verwirrt und starrte auf das Blatt Papier, das sie ihm vor die Nase hielt.
KEIN WORT. KOMM MIT NACH UNTEN, ZIEH DEINEN MANTEL AN, WIR GEHEN AUF DEN BALKON.
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Zehn Stunden später ging Kate die Stufen hinauf und betrat den gefliesten Eingangsbereich. » Trois, s ’ il vous plaît «, sagte sie zu dem Oberkellner und hob drei Finger in die Höhe.
» Je vous en prie .« Er streckte einladend den Arm aus und führte sie durch die schummrige Bar in den etwas heller erleuchteten Speiseraum.
In diesem Restaurant hatten Dexter und Kate an jenem Abend gegessen, als sie den Mietvertrag für ihr Apartment unterschrieben hatten. Es war ein Anlass zum Feiern gewesen. Die Jungs waren in der Obhut eines Babysitters im Hotelzimmer geblieben und hatten geschlafen.
War all das tatsächlich erst ein halbes Jahr her? Es war warm gewesen. Auf der Kopfsteinpflasterstraße hatten Tische und Stühle gestanden, und von dem kleinen schattigen Platz in der Mitte aus bot sich ein atemberaubender Ausblick auf die Schlucht. Kate und Dexter hatten an einem weiß gedeckten Tisch in der Abenddämmerung gesessen, inmitten junger Leute, die plauderten, rauchten, tranken.
Nach dem Essen hatte Dexter ihre Hand genommen und ihre Handfläche gekitzelt, und sie hatte sich gegen ihn sinken lassen, in die warme Geborgenheit ihrer Ehe.
Es war Spätsommer gewesen in Mitteleuropa. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, wie es hier mitten im Winter sein würde.
Kate rutschte auf ihren Fensterplatz und sah hinaus. Es hatte zu schneien begonnen, sodass der Raum in düster-silbriges Licht getaucht war. Das Gewicht ihrer Beretta wog schwer in ihrer Handtasche, als sie sie neben sich auf die Bank stellte und den Blick durch den clubähnlichen Raum mit den dunklen Tapeten, den Wandleuchten und dem dunklen, schweren Mobiliar schweifen ließ.
Mit dem gewohnten »Wann ech gelift« legte die Kellnerin die Speisekarten vor ihnen auf den Tisch.
Fast alle Tische waren von Männern in Anzug und Krawatte besetzt, die in Zweier- oder Vierergruppen beisammensaßen. Auf der anderen Seite des Raums saß eine einzelne Frau, die sich unablässig
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