Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
unterschiedliche Codes haben, doch sie schob sie beiseite. Bestimmt machte sie sich völlig umsonst Sorgen.
Und genauso war es.
Der Bildschirm wurde weiß, die Festplatte summte, dann sprang ein Dialogfeld mit einem roten Ausrufezeichen und einer Anweisung auf: DAUMENABDRUCK ERFORDERLICH.
Kates Blick fiel auf das Touchpad. Sie begriff. Und gab auf.
Sie fuhr den Computer herunter.
Sie trat vor das Bücherregal, zog die Kartons heraus und begann sich durch die dicken Stapel zu arbeiten: Ertragsübersichten, Prospekte, Protokolle von Shareholder-Versammlungen, Tortendiagramme, Tabellen und Grafiken, vollgekritzelt, eselsohrig und mit Korrekturen versehen.
Es war eindeutig nicht das Büro eines Experten für Computersicherheit. Sondern der Arbeitsplatz eines Investmentbankers, eines Fondsmanagers oder Finanzberaters. Dieses Zeug hier gehörte jemandem, der sich mit völlig anderen Dingen beschäftigte als ihr Ehemann. In diesem Büro arbeitete ein völlig anderer Mann als Dexter.
Kate sah sich noch einmal um, betrachtete die säuberlich aufgehängten Fotos, die Fenster, die auf den zäh dahinfließenden Verkehr hinausgingen, auf das Bürogebäude auf der anderen Straßenseite. Ihr Blick blieb an ihrem Spiegelbild hängen. Sie sah hinein und betrachtete das Büro aus dieser Perspektive, bis ihr ein Gegenstand in der hinteren, oberen Ecke ins Auge fiel. Dort oben hing etwas. Panisch fuhr sie herum und ging, zuerst in die verkehrte Richtung, dann in die richtige, darauf zu. Dieses Ding, zu dem sie gerade hinaufsah, schien geradewegs auf sie herunterzusehen. Durch eine münzgroße Glasscheibe.
Eine Videokamera.
----
Vierzig Minuten später saß sie im Wagen und wartete wieder einmal darauf, dass es drei Uhr wurde. Das feine Nieseln hatte sich inzwischen zu einem steten Regen entwickelt.
Sie sah zu, wie die anderen Mütter, mit Schirmen bewaffnet, auf das Schulgelände strömten, die Kragen ihrer pitschnassen Regenmäntel hochgeschlagen. Einige von ihnen schoben Babys und Kleinkinder in Kinderwagen und tragbaren Autositzen durch den eisigen Guss.
Diese Videokamera.
Kate gelang es nicht, sie auch nur für eine Minute zu vergessen. Wann würde Dexter sich die Aufnahmen ansehen? Wurde das Video auf einen Server übertragen und von jemandem – und wenn ja, von wem? – überwacht? Oder wurde die Aufnahme aufgezeichnet, und Dexter konnte sie von London aus abrufen? Oder musste er bis zu seiner Rückkehr nach Luxemburg warten? So lange, bis er wieder ins Büro kam, was er allerdings erst in zwei Wochen, nach den Weihnachtsferien, tun würde?
Gehörten all diese Unterlagen überhaupt ihm? Oder seinen Kunden, wer auch immer sie sein mochten? Vielleicht gehörte die Überwachungskamera ja ebenfalls seinen Kunden. Vielleicht hatte alles, was sie in diesem Büro gefunden hatte, ja gar nichts mit Dexter zu tun.
Kate stieg aus dem Wagen, schloss sich der Herde der Mütter an und betrat das Schulgelände genau in dem Augenblick, als die ersten Kinder durch die riesigen, schweren Glastüren strömten, ohne sich von der Unwirtlichkeit des Wetters die Laune verderben zu lassen. Oder von sonst irgendetwas.
Wann genau würde sie auffliegen? Und wer würde sie auffliegen lassen?
----
Im Zweifel für den Angeklagten. Wieder und wieder gingen Kate diese Worte durch den Kopf. Sie sollte diesen Rechtsgrundsatz auch auf Dexter anwenden. Und er auf sie. Eigentlich sollten die Worte Teil des Ehegelübdes sein. Sie waren viel wichtiger als dieses »in guten und in schlechten Tagen, in Reichtum und Armut, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod euch scheidet«. Man musste dem anderen einen Vertrauensvorschuss gewähren.
Wie konnte sie erklären, was sie getan hatte? Welches Argument könnte sie dafür vorbringen, dass sie seine Schlüssel genommen hatte, in sein Büro eingebrochen war und dort herumgeschnüffelt hatte?
Vielleicht konnte sie behaupten, dass seine Schlüssel tatsächlich herausgefallen waren. Und dass sie, als er ihr am Telefon den Code durchgegeben hatte, schlicht und einfach nicht widerstehen konnte.
Oder sie ging in die Offensive, drehte den Spieß um und schob ihr gewaltsames Eindringen auf seine völlig überzogene Geheimniskrämerei. Hättest du mir etwas erzählt, könnte sie argumentieren, wäre ich vielleicht nie auf die Idee gekommen. Du bist selber schuld, würde sie sagen. Du hast mich regelrecht dazu getrieben.
Aber wie um alles in der Welt sollte sie ihm in diesem Fall erklären, woher sie
Weitere Kostenlose Bücher