Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
wusste, wo sein Büro war?
Und umgekehrt – wie würde seine Erklärung wohl aussehen?
Durchaus möglich, dass er genau das war, was er behauptete: Er war Sicherheitsberater für eine Bank, und er arbeitete ausschließlich auf elektronischem Weg. Seine gesamte Arbeit und all seine Informationen befanden sich auf dem Computer, zu dem sie sich keinen Zugang hatte verschaffen können. Nichts, was irgendwie mit seinem Job zu tun hatte, existierte in Papierform. Und all die Unterlagen in seinem Büro? Reine Freizeitbeschäftigung. Ein Hobby.
Oder? Was sonst?
Fest stand, dass Dexter jeden Monat eine beträchtliche Summe auf ihr gemeinsames Konto einzahlte und nie außergewöhnlich hohe Beträge abhob. Jemand bezahlte ihn dafür, dass er etwas Bestimmtes tat. Aber wer?
Und dann war da noch die Tatsache, dass Julia und Bill für das FBI beziehungsweise Interpol arbeiteten und aller Wahrscheinlichkeit nach entweder hinter ihr oder hinter Dexter her waren.
So viele Jahre ihres Lebens hatte niemand gewusst, wer sie wirklich war. Nun hatten sich die Vorzeichen auf einmal umgekehrt, und sie war diejenige, die keine Ahnung hatte, wer auf der anderen Seite stand. Eines wusste sie allerdings genau – sie würde alles, was sie sich im Hinblick auf ihren Ehemann zu glauben gezwungen hatte, noch einmal gründlich überdenken müssen.
Sie beugte sich über die Jungs, um sie anzuschnallen. Natürlich könnte Dexter auch vollkommen unschuldig sein. In diesem Fall wäre doch sie diejenige, die Dreck am Stecken hatte. Die Zielperson von Interpol. Und das Verbrechen, das sie begangen hatte, hieß Torres.
Allerdings hatte sie keinerlei Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, in welchem Zusammenhang der Vorfall von damals mit den aktuellen Ermittlungen stehen könnte. Entweder lagen plötzlich fünf Jahre alte Beweise gegen sie vor oder auch nicht. Aber nichts in ihrem Leben in Luxemburg hatte auch nur ansatzweise eine Bedeutung für den Vorfall in New York, den sie so verzweifelt zu vergessen versuchte. Jener Vorfall, der ihr vor Augen geführt hatte, dass sie nicht länger als Agentin tätig sein konnte. Dass sie nicht länger die innere Stärke und Rationalität besaß, sich in jeder Lage ihre Objektivität zu bewahren, ihre Panik als Mutter von ihrem Verantwortungsbewusstsein im Beruf zu trennen. Sie hatte kündigen müssen. Und genau das hatte sie getan.
Aber die Kündigung hatte nichts daran geändert, was sie getan hatte. Sie hatte nichts an dem Teil ihrer Vergangenheit geändert, vor dem sie seitdem vergeblich davonzulaufen versuchte.
19
Der Botschafter stand in der hinteren Ecke der Eingangshalle neben einem runden Tisch mit einem wilden, überdimensionierten Gesteck aus allerlei Blüten, Zweigen und Farnen in sämtlichen Farben – ein reichlich anarchistisches Arrangement, besser gesagt, ein Nicht-Arrangement.
»Willkommen«, sagte er. »Ich bin Joseph Williams.« Er streckte Dexter die Hand hin. »Und das ist meine Frau Lorraine. Es freut mich außerordentlich, dass Sie Zeit gefunden haben, zu unserer Weihnachtsfeier zu kommen.«
Die vier schüttelten einander – versehentlich über Kreuz – die Hände. Verlegenes Lachen.
»Aber wir haben uns ja bereits kennengelernt«, erklärte die Botschaftergattin und zwinkerte Kate verschwörerisch zu, als teilten sie ein pikantes Geheimnis. Aber es gab kein Geheimnis. Die Frau gehörte lediglich zu der Sorte, die jedem zuzwinkerte.
»Natürlich«, bestätigte Kate, die sich vage an ein vormittägliches Kaffeetrinken erinnerte. Vielleicht in der Schule oder so. Diese Kaffeekränzchen fanden alle Naselang statt.
»Und, Dexter?«, fragte der Botschafter. »Sie sind ganz neu hier?«
»Schon fast fast vier Monate.«
»Wow, das ist für Luxemburg ja schon eine halbe Ewigkeit.« Der Botschafter schüttete sich vor Lachen über seinen vermeintlichen Scherz beinahe aus. »Wir sind seit zwei Jahren hier, aber es fühlt sich an wie zwanzig. Stimmt’s, Schatz?« Der Botschafter wartete nicht auf ihre Antwort und schien auch gar keine zu erwarten. Stattdessen legte er Dexter besorgt eine Hand auf die Schulter. »Und, leben Sie sich auch gut ein?«
Dexter nickte. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er war erst eine Stunde zuvor aus London zurückgekommen und hatte bisher noch keine Gelegenheit gehabt, ins Büro zu fahren. Und es würde auch noch gut anderthalb Wochen dauern, bis es so weit war. Morgen früh würden sie nach Genf aufbrechen.
»Sehr schön«,
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