Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
sagte der Botschafter. »Tja, jedenfalls freuen wir uns sehr, dass Sie heute Abend kommen konnten. Es gibt so wenige Gelegenheiten, die ganze amerikanische Gemeinschaft zusammenzutrommeln. Bitte, nehmen Sie sich doch etwas zu trinken. Der Crémant fließt heute in Strömen.« Wieder brach er, rotwangig und feuchtlippig, in schallendes Gelächter aus. Entweder war der Mann stockbetrunken oder ein Idiot. Wahrscheinlich beides.
Als mit einem Schwall kalter Winterluft ein weiteres Pärchen hereinkam, verabschiedeten Kate und Dexter sich höflich und betraten das Wohnzimmer, einen mit überkandidelten Möbeln und teurem Schnickschnack ausgestatteten Raum.
»Na hallo, wenhavenwirdennda?« Unvermittelt stand Amber vor ihnen, eine Frau im Schlepptau, die ebenfalls aus den Staaten kam. Oklahoma? Kate konnte sich nicht genau erinnern. Jedenfalls faselte sie bei jeder Gelegenheit von der Kirche und bezeichnete alles als super.
»Hi«, trompetete die Frau und geriet ins Stolpern, worauf prompt der Champagner über den Rand ihres Glases schwappte. »Hoppla!«
»Jesus«, flüsterte Dexter Kate ins Ohr. »Wann hat diese Party angefangen? Gestern?«
»IchbinMrranda«, nuschelte die Frau. »Freutmichsiekennensulern.«
»Miranda?«, fragte Dexter.
»Genau.«
»Ganz meinerseits. Wie ist der Crémant?«
»S-ssuperlecker.«
Kate ließ den Blick über die Gesichter schweifen, von denen sie die meisten noch nie gesehen hatte. Den Löwenanteil der Gäste bildeten offenbar eingefleischte Amerikaner, die ihren Patriotismus mit Sternenbanner-Ansteckern am Revers zur Schau stellten und so taten, als wären sie gegen ihren Willen nach Europa geschickt worden.
Ein Kellner kam mit einem Tablett voll Schinkenröllchen vorbei, aber alle schüttelten ablehnend den Kopf.
Im Nebenzimmer erspähte Kate Julia. Sie suchte den Raum nach Bill ab und entdeckte ihn schließlich in der hinteren Ecke des Raums neben einer attraktiven Frau, die ihm allem Anschein nach die Leviten las. Bill machte ein zerknirschtes Gesicht. Oder er mimte den Zerknirschten.
Jane, so hieß die Frau in dem bildschönen, eng anliegenden grünen Kleid mit dem tiefen Ausschnitt, das ihre Schultern unbedeckt ließ. Sie hatte irgendeine Funktion beim American Women’s Club, und ihr Mann war der Vizeboss der Botschaft oder etwas in der Art. Ein echtes Power-Paar.
In diesem Moment fiel der Groschen. Jane war die Frau gewesen, die Kate am Apparat gehabt hatte, als sie die Nummer ausprobiert hatte, die sie in Bills Büro hatte mitgehen lassen. Vor ein paar Wochen war sie bei Jane zum Kaffeetrinken eingeladen gewesen, und dort hatte sie auch die Frau des Botschafters kennengelernt.
Kate machte sich auf den Weg zu Julia. Über kurz oder lang würden sie einander ohnehin in die Arme laufen, also konnte sie ebenso gut in die Offensive gehen.
Die beiden Frauen begrüßten sich mit einem Kuss auf jede Wange, und Kate stieg eine Ginwolke in die Nase.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte Julia.
»Dir auch.«
»Wo warst du denn in letzter Zeit? Ich habe dich ja kaum noch zu Gesicht bekommen.« Julia hatte Kate mehrere Nachrichten hinterlassen, doch Kate hatte nicht gewusst, wie sie nach allem, was sie über Julia in Erfahrung gebracht hatte, mit ihr umgehen sollte.
»Ach, du weißt ja, wie das ist, die Vorweihnachtszeit …« Kate ging nicht näher darauf ein, und Julia fragte nicht nach. Sie wussten beide, dass es nicht der Wahrheit entsprach.
»Es war sehr nett, deinen Vater kennenzulernen.«
Julia lächelte. »Danke. Es war eine Art Überraschungsbesuch.«
»Ah.«
»Und? Freust du dich schon auf Südfrankreich?«, fragte sie. »Das wird bestimmt toll.«
»Oh«, meinte Kate, »ehrlich gesagt, haben wir umdisponiert.«
»Wirklich?« Etwas an Julias Tonfall, an ihrer gezwungen wirkenden Neugier verriet Kate, dass diese Neuigkeit ihr keineswegs neu war.
»Wir fahren stattdessen in den Skiurlaub.«
»Skiurlaub? Du machst Witze. Wir auch!«
Kates letzter Stand der Dinge war, dass Julia und Bill über die Feiertage nach Chicago flogen. »Wohin denn?«, fragte Kate, obwohl sie plötzlich ziemlich sicher war, die Antwort bereits zu kennen.
»In die französischen Alpen. Haute-Savoie.«
Klar. »Ach ja? Ihr auch?« Kate bemühte sich, begeistert zu klingen, doch die Paranoia schien ihr die Luft abzuschnüren.
»Wahnsinn! Wir sollten zusammen fahren. Wir könnten gemeinsam Skifahren gehen. Bill wird bestimmt völlig aus dem Häuschen sein.«
Kate zwang sich zu einem
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