Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Julia wieder auf. »Wir sind da drüben«, sagte sie.
Für einen Moment setzte Kates Herzschlag aus.
»In dem Bistro mit der grünen Markise«, sprach Julia weiter. Kate konnte sie in dem Lärm kaum hören. Julia konnte unmöglich mitbekommen haben, worüber sie mit Kyle gesprochen hatte. Oder etwa doch?
Die Kinder kamen mit an die Brust gepressten Skiern herüber, gefolgt von einem breit grinsenden Dexter. Kate nahm die beiden in die Arme und drückte sie an sich – der vergebliche Versuch, für einen Moment den Horror rings um sie herum zu vergessen.
Sie stapften durch den Schnee zu Bill, der ganz allein an einem großen Picknicktisch saß, wie ein in Ungnade gefallener Spitzenmanager nach einer Vorstandssitzung.
Kate brauchte dringend eine Minute Zeit, um sich ungestört mit Kyle zu unterhalten, vielleicht genügten auch ein paar Sekunden.
Sie setzten sich an den grob gezimmerten Tisch und sahen zu, wie Becher mit dampfend heißer Schokolade und riesige Glashumpen voll schaumigem Bier serviert wurden.
»Also«, sagte Bill, »Kyle, ja?«
»Genau, Bill.«
»Und Sie leben in Genf?«
»Richtig.«
»Interessante Stadt?«
»Nicht besonders.«
»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns vielleicht schon mal begegnet?«
Kate hatte das Gefühl, gleich zu explodieren.
»Ich glaube nicht.«
Bill nickte, doch er schien nicht überzeugt zu sein. »Was machen Sie beruflich, Kyle?«
»Ich bin Anwalt. Aber Sie müssen mich für einen Moment entschuldigen«, sagte er, »auch Anwälte haben manchmal Bedürfnisse.«
Kate spürte Bills Blick auf sich, spürte den Argwohn, der ihm aus jeder Pore zu dringen schien. Sie tat, als beobachte sie die Leute: Skifahrer in ihren leuchtend bunten Anoraks, Kinder, die sich Schneeballschlachten lieferten, Kellnerinnen, die Tabletts herumtrugen, Großmütter in teuren Pelzmänteln und Teenager mit Zigaretten im Mundwinkel.
Kate rutschte über die Bank und stand auf. »Entschuldigt«, sagte sie, ohne einem der Anwesenden in die Augen zu sehen.
Sie registrierte, wie Julia und Bill einen Blick wechselten.
»Ich komme mit«, sagte Julia. Natürlich.
Kate ging zwischen den Tischen hindurch und ließ einen Pferdeschlitten vorbeifahren, dem zwei kreischende Mädchen folgten. Die eine wandte sich um und bekam prompt einen Schneeball mitten ins Gesicht, worauf ihr eine Fontäne Blut aus der Nase spritzte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, und ein dicker Tropfen Blut fiel auf den vereisten Schnee, dann noch einer, dann viele winzige Tröpfchen, die den Schnee vor ihren Füßen besprenkelten. Ihre Mutter kam angelaufen, schimpfte mit einem sichtlich hochzufriedenen Jungen – offenbar der kleine Bruder – und drückte dem Mädchen eine Serviette auf die Wunde. Trotzdem lief ihr das Blut weiter aus der Nase und tropfte in den Schnee. Wieder dieses Muster, nur dieses Mal viel kleiner. Blut, das sich auf dem Boden ausbreitete.
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Nach dem unerfreulichen Ausgang des unvorhergesehenen Treffens mit Torres verbrachte Kate eine höchst unruhige Nacht. Sie hatte Angst vor ihm, keine Frage. Die ganze Nacht über ersann sie Pläne und Szenarien, um sie dann wieder zu verwerfen.
Erst um drei Uhr morgens, als sie mit atemberaubender Endgültigkeit zu einem Entschluss gelangt war, fand sie in den Schlaf. Zwei Stunden läutete Jake mit seinem Geschrei den Tag ein. Sie fütterte ihn und versuchte ihn zu beruhigen, während jenseits des Lattenzauns, der ihren nachlässig gepflegten Garten von dem heruntergekommenen, überwucherten Garten des benachbarten Mehrfamilienhauses trennte, bereits die Sonne aufging.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Kate noch nicht, dass sie wieder schwanger war. Es war nicht geplant gewesen. Aber auch keineswegs unerwünscht.
Vierundzwanzig Stunden später saß sie im Zug nach New York. Mit einer blonden Perücke und einer großen Brille mit Fensterglas – ihr Sehvermögen war ganz ausgezeichnet – war sie zur Union Station gefahren, wo sie an einem Automaten eine Fahrkarte ohne Sitzplatzreservierung gelöst und bar bezahlt hatte. Von der Penn Station ging sie zu Fuß eine halbe Stunde durch die von Menschenmassen bevölkerten Straßen Manhattans und kaufte sich unterwegs in einem Souvenirshop eine Yankees-Mütze, made in China. Sie setzte sie auf und zog sie tief ins Gesicht, sodass ihr blonder Pony beinahe ihre Wimpern berührte.
Kate betrat das Waldorf-Astoria nicht durch den Eingang in der Park Avenue, sondern durch den ruhigeren Eingang in der 49.
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