Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Hallo!«
Carolina kommt winkend näher. Sie stammt aus Holland, Kate kennt sie aus der Schule. Auch sie ist eine der Frauen, die ein großes Sortiment zueinanderpassender Koffer besitzt. Carolina beginnt auf sie einzureden – ein ungezügelter Wortschwall voller Ausrufezeichen. Sie ist sehr temperamentvoll und wahnsinnig freundlich, stets darauf bedacht, sich mit allen gut zu verstehen, und jede Unterhaltung mit ihr endet mit einer Fülle an Einladungen.
Kate betrachtet Carolinas Mund, der sich beständig öffnet und schließt, doch es fällt ihr schwer, etwas vom Inhalt ihres Monologs mitzubekommen. Es geht um das frisch renovierte Café in der Rue du Bac, um die Frage, an welchem Abend sich die Mütter zum ersten Mal im neuen Schuljahr treffen, und darum, dass eine neue Amerikanerin hergezogen ist. Ob Kate sie bereits kennengelernt hat?
Kate steht da, lächelnd und nickend, und lauscht dieser Frau, die sie seit einem Jahr kennt, die sie täglich sieht – vor dem riesigen Schultor, im Café nebenan, am Zeitungskiosk oder auf dem Spielplatz. Diese Frau, mit der sie sich über Babysitter, Haushälterinnen und die Beinfreiheit auf Langstreckenflügen unterhält.
Diese Frau, die Kate vielleicht nie wiedersehen wird. Vielleicht ist dies ihre letzte Unterhaltung. So ist es nun einmal als Expat. Man weiß nie, ob die, mit der man gestern noch auf der Straße geplaudert hat, nicht morgen schon auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Ehe man sichs versieht, erinnert man sich nicht einmal mehr an ihren Namen, an ihre Augenfarbe, an die Klasse, in der ihre Kinder waren. Und man kann sich nicht vorstellen, dass man selbst zu den Leuten gehören wird, die eines Tages wie vom Erdboden verschluckt sind. Und trotzdem ist man einer von ihnen.
»Sehen wir uns morgen?«, fragt Carolina. Sie hält das für eine rhetorische Frage.
»Ja«, antwortet Kate – reflexartig, ehe ihr bewusst wird, dass ihre Zustimmung noch etwas ganz anderem gilt, nämlich dem Plan, der ihr schon eine ganze Stunde lang durch den Kopf geistert.
Sie weiß jetzt, dass sie die Taschen fürs Wochenende gar nicht zu packen braucht. Ebenso wenig, wie sie den Audi volltanken muss. Ihre Familie wird nirgendwo hinfahren. Weder heute Abend noch morgen.
Es gibt noch ein anderes Leben, das sie führen kann. Hier, in Paris. Und sie weiß auch, was sie dafür tun muss.
22
Plopp!
Kate fuhr herum, als Cristina den Korken aus einer weiteren Flasche knallen ließ. Sie fing die heraussprudelnde Flüssigkeit mit einem Handtuch auf und wischte die Flasche damit ab, hastig, nachlässig. Mittlerweile musste in der Küche bereits eine ganze Batterie leerer Flaschen stehen.
Dies war ihre erste Einladung seit dem Skiausflug und dem gemeinsamen Abendessen mit den sogenannten Macleans vor einer Woche. Gestern waren sie nach Luxemburg zurückgekehrt.
Cristina schenkte noch etwas Champagner in Kates schweres Kristallglas. Besaßen diese Menschen allen Ernstes mehrere Dutzend Champagnergläser aus Kristall? Im Wert von tausend Dollar oder sogar noch mehr? Nur weil einmal im Jahr Silvester war?
Kate sah Julia im Nebenraum sitzen. Bei ihrer letzten Unterhaltung hatten sie im Gewimmel vor dem Hotel gestanden und in der Kälte betont herzliche Abschiedsküsse getauscht, aber Kate war einigermaßen abgelenkt gewesen – von ihren völlig übermüdeten Kindern, der verblüffend angenehmen Gesellschaft von Kyle und der Neuigkeit, dass diese beiden FBI-Agenten ihren Mann des Diebstahls von über fünfzig Millionen Dollar bezichtigten.
Sie hatte Dexter immer noch nicht darauf angesprochen.
Die vorherrschende Sprache auf dieser Party war Englisch. Doch da ihre Gastgeber aus Dänemark stammten, drangen auch dänische Wortfetzen an ihre Ohren, ebenso wie schwedische und norwegische, deutsche und niederländische. Die romanischen Sprachen bereiteten ihr keinerlei Probleme, sie konnte sich in allen zumindest verständlich machen. Aber die nordischen? Nichts als unverständliches Kauderwelsch.
Julia suchte den Blickkontakt zu ihr. Kate holte tief Luft.
Wie die meisten Männer trug Dexter Jeans und ein schwarzes Hemd. Doch während die anderen breite Gürtel mit auffälligen, nach Statussymbol riechenden Schnallen trugen, ließ Dexter sein Hemd als Einziger aus der Hose hängen. Und das war der springende Punkt: Dexter würde nicht im Traum auf die Idee kommen, sich das Hemd in die Hose zu stecken und einen so protzigen Gürtel zu tragen, um seine Macht unter Beweis zu stellen. So
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