Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Straße. Um kurz nach neun stieg sie aus dem Aufzug. Es war noch zu früh für die Zimmermädchenkolonnen – viele Gäste schliefen wahrscheinlich noch –, doch bereits so spät, dass die Geschäftsleute ihre Zimmer verlassen hatten. Somit sollte auf dem Hotelflur nicht allzu viel Betrieb herrschen.
Kate wusste, dass Torres wie die meisten Mexikaner einen reichlich laxen Umgang mit der Zeit pflegte. Er kam häufig zu spät zu Terminen, manchmal sogar eine geschlagene Stunde, und empfing grundsätzlich niemanden vor zehn Uhr vormittags. Kate konnte sich nur wundern, dass in diesem Land überhaupt irgendetwas vorwärtsging.
Sie wusste, dass sie ihn um diese Zeit, 09:08 Uhr, allein in seinem Hotelzimmer antreffen würde.
Niemand begegnete ihr, als sie den mit Teppichboden ausgelegten Korridor entlangging. Vor der Tür von Torres’ Zimmer war ein Leibwächter postiert, ein bulliger, unfreundlich dreinblickender Kerl in einem billigen schwarzen Anzug. Die frühmorgendliche Schicht war üblicherweise nicht mit den Topleuten besetzt, nicht mit den eindrucksvollen Riesen, die man abends in der Bar an Torres’ Seite sah. Dieser Kerl gehörte bestenfalls zur B-Riege.
Kate setzte ein schüchternes Lächeln auf und ging an dem Typ vorbei, ohne ihre Schritte zu verlangsamen, als befände sie sich auf dem Weg zu einem anderen Zimmer, während sie die Hand in ihrer Manteltasche verschwinden ließ, in der sich ein aufgeklapptes Messer befand. Mit einer fließenden Bewegung zog sie den Arm wieder heraus und rammte die Klinge geräuschlos in die Luftröhre des Mannes, der sie aus ungläubig aufgerissenen Augen anstarrte. Er versuchte, die Arme zu heben, doch es war zu spät. Sein massiger Körper sackte in sich zusammen und rutschte langsam an der Wand hinab, während sie ihm die Hände in die Achselhöhlen schob und ihn abfing, um zu verhindern, dass er mit einem Poltern auf dem Boden aufschlug.
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Kate musste unbedingt dafür sorgen, dass Julia sie überholte. Ihr lief die Zeit davon. Sie begann zu humpeln. »Entschuldige«, sagte sie und kauerte sich hin. »Meine Socke ist in den Skistiefel gerutscht. Geh ruhig schon vor, ich komme gleich nach.«
Kate beugte sich vor, ohne ihr in die Augen zu sehen. Doch wenn Bill über Kate Bescheid wusste, war Julia garantiert ebenfalls eingeweiht. Höchstwahrscheinlich wussten sowohl Bill als auch Julia, wer Kyle war, oder sie ahnten es zumindest. Und entweder konfrontierten sie Kate jetzt damit oder gar nicht.
Ihre kleine Schauspieleinlage sollte sie aus der Reserve locken. Kate lehnte sich gegen einen Stuhl und öffnete die Schnallen ihrer Skistiefel, während sie darauf wartete, dass Julia weiterging. Was sie schließlich tat.
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»Schhh«, zischte Kate und nickte in Richtung Damentoilette. »Sie ist da drin.« Kate zog Kyle ein Stück den Gang hinunter, weg von den Türen. »Los, schnell.«
»Sie glauben, er hätte Geld gestohlen.«
Die Skibrille um Kyles Hals zog Kates Blick auf sich. Einen Moment lang fragte sie sich, ob ein Mikrofon darin versteckt sein könnte, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer davon profitieren sollte, falls ihr Gespräch belauscht wurde.
»Wie viel?«
»Fünfzig Millionen.«
»Was?« Kate hatte Mühe, nicht aus den Schuhen zu kippen. »Wie bitte?«
»Fünfzig Millionen Euro.«
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Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und starrte in den Spiegel. Mittlerweile hatten die Dinge, die unausgesprochen zwischen ihr und Dexter standen, ein geradezu schwindelerregendes Ausmaß angenommen. Es waren über Monate und Jahre immer mehr geworden, während ihrer gesamten Beziehung, doch nun schienen sich die Geheimnisse und Lügen mit geradezu beängstigendem Tempo zu vermehren.
Wie sollte sie darüber nicht mit ihrem Ehemann reden?
Andererseits – wie sollte sie? Wie sollte sie ihm von ihrem Verdacht, ihren Recherchen, ihren Kontakten erzählen? Sollte sie gestehen, dass sie in Bills Büro eingebrochen war? Sollte sie ihm von ihrem Treffen mit Hayden in München, mit dem Agenten-Chauffeur in Berlin und mit Kyle dort draußen im Café erzählen? Wo er mit ihren Kindern am Tisch saß? Und wie sollte sie ihm all das beibringen, ohne zu verraten, dass sie CIA-Agentin war?
Sie saß in der Falle – in einer, die sie sich selbst gestellt hatte. Sie war zum Stillschweigen verdammt.
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»Wichtig ist, dass man versucht, sich in die Gedankengänge des Hackers hineinzuversetzen. Ich muss mich immer fragen: Was würde ich
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