Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
Sachen zusammen. Einen Wochenendausflug wie diesen hatten sie bereits nach Straßburg, Brügge und Köln unternommen, so oft, dass sie nicht zu überlegen brauchte, was sie mitnehmen wollte.
Sie nahm ihre Sachen, um sie ins Zimmer der Jungs zu bringen. Dexter stand mitten im Zimmer und faltete Jakes orangefarbene Tagesdecke zusammen.
Der Werkzeugkasten. Offen. Der Akkuschrauber lag mitten auf dem Boden.
Dexter starrte sie an, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. Er sagte kein Wort.
Sie ging zu Bens Bett, auf dem die geöffnete, halbvolle Reisetasche stand. Sie legte ihre Sachen darauf und zog den Reißverschluss zu.
Kate sah zu, wie Dexter die gefaltete Decke auf Jakes Bett legte und, noch immer wortlos, das Zimmer verließ. Ihr Blick fiel auf die Kommode. Die Front der untersten Schublade, die lediglich lose vor dem Rahmen gehangen hatte, saß ein klein wenig schief. Sie war nicht gänzlich herausgerutscht und zu Boden gefallen, aber jedem, der genauer hinsah, würde sofort auffallen, dass sie nicht im Rahmen steckte. Dass sie herausgenommen worden oder heruntergefallen war. Dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.
Hatte Dexter hingesehen?
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Wie funkelnde Stecknadelköpfe tanzten die Lichter der Straßenlaternen, Restaurants und Häuser auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche der Amsterdamer Grachten. Die Vorhänge der Häuser waren zurückgezogen, und man sah überall Leute in ihren Wohn- oder Esszimmern sitzen, die Zeitung lasen oder ein Glas Wein tranken. Familien hatten sich um den Abendbrottisch versammelt, Kinder sahen fern, vor den Augen wildfremder Menschen.
Dexter fand einen Parkplatz in der Nähe des Hotels, direkt am Kanal. Zentimeterweise arbeitete er sich vorwärts, da es zwischen der Kopfsteinpflasterstraße und dem drei Meter tiefen Kanal keine Barriere gab. An einem Automaten kaufte er einen 24-Stunden-Parkschein für fünfundvierzig Euro und legte ihn hinter die Windschutzscheibe. Vor ein paar Monaten wäre Dexter mit einer Situation wie dieser noch völlig überfordert gewesen, doch nun gelang es ihm anscheinend mühelos, Anweisungen in einer Sprache zu folgen, die er nicht beherrschte. Er hatte fast so etwas wie Lebenstüchtigkeit entwickelt. Und er hatte gelernt, wie man anständig einparkte.
Sie überquerten eine Brücke. Der Kanal war von herrschaftlichen Backsteinhäusern mit hohen, erhellten Fenstern und glänzenden Haustüren gesäumt. Wieder einmal ging sie ihr imaginäres Gespräch mit Dexter durch. Dexter, würde sie sagen, Julia und Bill sind beim FBI und arbeiten gerade für Interpol. Sie glauben, du hast fünfzig Millionen Euro gestohlen. Ich weiß, dass du ein geheimes Konto hast, und so langsam glaube ich, dass du es tatsächlich getan hast. Aber das Wichtigste ist jetzt, was wir machen können, damit sie dich nicht kriegen.
Wie hast du das mit dem Konto herausgefunden?, würde Dexter fragen.
Kate würde ihm von der Kommode erzählen. Und von dem Zettel, den sie darin gefunden hatte.
Du schnüffelst einfach so hinter mir her?
An diesem Punkt des Gesprächs ließ ihre Phantasie sie im Stich. Genau das war die Frage, die sie nicht beantworten konnte. Na ja, nicht einfach so, würde sie antworten. Und dann? Wo sollte sie anfangen? Sollte sie ihm ihre Geschichte erzählen, die unweigerlich mit dem Geständnis enden würde, dass sie fünfzehn Jahre lang unbemerkt für die CIA gearbeitet hatte?
Sie schob den Gedanken beiseite – zum hundertsten, zum tausendsten Mal.
»Wie wäre es hier?« Dexter blieb vor einem der berühmten Coffeeshops stehen, dessen Interieur schmucklos und vom Nikotin dunkel verfärbt war.
Sie wurden zu einem Tisch geführt, dem letzten freien in dem großen Gastraum. Es war Freitagabend, und überall drängten sich feierlustige Pärchen und Gruppen. Alles auf der Karte hörte sich lecker an, ebenso wie die Spezialitäten des Tages, die die Kellnerin herunterbetete. Sie hatten Bärenhunger. Eigentlich hatten sie unterwegs etwas essen wollen, aber bevor sie sich entscheiden konnten, waren schon die Vororte Amsterdams aufgetaucht. Sie hatten die Jungs mit Schokoriegeln ruhiggestellt, von denen stets ein Vorrat im Handschuhfach lag.
Die Kellnerin brachte ihnen Bier und Limonade in dicken Gläsern. Wie üblich widmeten sich die Jungs ihren Malbüchern.
»Was wolltest du denn mit dem Werkzeugkasten?«
Aus heiterem Himmel. Ein klammheimlicher Angriff, nach fünf Stunden.
Kate antwortete nicht. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Dexter
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