Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
leichter von der Hand, trotzdem würde sie es nicht schaffen.
»Mami?« Nun stand Ben im Türrahmen.
»Ja?«, fragte sie, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Das ist Daddys Kommode.«
»Stimmt«, sagte sie, »er hat sie neulich repariert.«
»Aber hat er es nicht richtig gemacht? Musst du es deshalb noch mal machen?«
Oh. Wie sollte sie ihm das nur erklären? »Nein«, sagte sie. »Sie ist nur wieder kaputtgegangen.«
Sie hatte ein Problem. Und zwar eines, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie stand auf und ging zu Ben. »Sag Daddy nichts davon, okay?«
»Wieso nicht?«
»Weil er sonst nur traurig wäre.«
»Weil er etwas falsch gemacht hat?«
Ja, genau. Daddy hatte etwas falsch gemacht. »Ja.«
»Oh.«
»Deshalb ist es unser Geheimnis, okay?« Sie bat ihr Kind, seinen Vater zu belügen. Es war widerwärtig.
»Okay.« Ben lächelte. Er liebte Geheimnisse. Er verschwand wieder.
Die dritte Schublade. Zwei Minuten. Genauso lange wie die Diskussion mit Ben. Es war 16:27.
Kate sah sich verzweifelt um. Dexter würde sicher zu spät kommen. Er kam immer zu spät.
Nur nicht, wenn sie wegfahren wollten.
Es war unmöglich, dass sie es schaffen würde. Sie nahm eine Schubladenfront und rammte sie auf die Bolzen der Seitenteile. Keine Schrauben, keine Rückwand, keine Schubvorrichtung. Sie hielt. Vorsichtig hob sie die Lade hoch und schob sie ganz langsam in den Rahmen. Ganz langsam. Die Front löste sich und fiel polternd zu Boden.
»Daddy!«
Sie hob die Front auf, rammte sie noch einmal auf die Bolzen und schlug mit dem Handballen darauf. Sie hielt.
»Hi!«, rief Dexter am Fuß der Treppe.
»Hi!«, rief sie und schlug die zweite Front mit dem Handballen fest. Sie hörte Dexter und die Jungs reden, konnte ihre Worte jedoch nicht verstehen.
Sie drosch auf die nächste Schublade ein.
Auf den Steinstufen waren Dexters Schritte zu hören.
Noch eine Schublade. Sie würde es nicht schaffen. Sie hatte noch nicht einmal genug Zeit, um die Einzelteile zusammenzusetzen. Mit der rechten Hand griff sie nach der Front der untersten Schublade, während sie mit der linken eine große Plastikkiste mit Legosteinen heranzog. Sie drückte die Schubladenfront vor die Öffnung und schob die Legokiste davor.
»Bist du so weit?« Dexter musste schon fast oben sein.
Ihr Blick wanderte durch den Raum, über die Kleider, den – scheiße! – Werkzeugkasten. Hastig riss sie die orangefarbene Tagesdecke von Jakes Bett und warf sie über den Werkzeugkasten, als Dexter im Türrahmen erschien.
»Fertig?« Er sah sich um. »Was ist denn hier los?«
Kate strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich habe bei den Klamotten von den Jungs ausgemistet. Sie haben so viel, was ihnen nicht mehr passt. Ich wollte alles weggeben.«
Sein Blick fiel auf die Kommode, die nicht ganz an der Wand stand. »Ah.«
»Tut mir leid, aber ich habe wohl die Zeit vergessen.«
Sie durchquerte das Zimmer, schnappte sich die Reisetasche, die sie bereits am Vormittag hervorgeholt hatte, und stellte sie neben das Bett.
»Es dauert nur eine Minute«, sagte sie. »Hast du deine Sachen schon gepackt?«
»Ja«, sagte er. »Heute Morgen. Und du?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Komm«, sagte er und griff nach der Tasche. »Ich übernehme das.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Welches sind die Stapel mit den Sachen, die wegsollen?«
»Sie … äh … sind schon weg.«
»Ach so?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Und was hast du damit gemacht?« War er argwöhnisch? Oder nur neugierig?
»Ich habe sie … äh … in die Textiltonne getan. Unten im Keller.«
»Darf man da auch Kleider reinwerfen? Ich dachte immer, die wäre nur für alte Handtücher oder Bettlaken oder so.«
»Nein, die ist auch für Kleider«, sagte sie. »Die Sachen werden erst bei der Sammelstelle sortiert.« Sie hatte keine Ahnung, ob das stimmte.
»Ah. Okay, na dann.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Geh deine Sachen holen.«
Konnte sie das Ruder noch irgendwie herumreißen? Konnte sie ihn nach unten schicken, damit er seinen Kindern Gesellschaft leistete? Konnte sie ihm irgendeine Lüge auftischen, um zu verhindern, dass er allein in diesem Zimmer blieb? Nein.
Wollte er hier allein sein? War ihm klar, was hier los war?
»Danke«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich nicht schon früher gepackt habe.« Sie ging bis in den Flur, blieb stehen und lauschte. Leises Rascheln, Atemzüge. Keine Schubladenteile, die polternd zu Boden fielen.
Eilig suchte sie ihre
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