Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
einer von meinen Schlüsseln würde klemmen, und ich wollte ihn wieder passend machen. Schwierig war nur, den Handwerker davon zu überzeugen, dass ich das auch ohne seine Hilfe hinkriegen würde. Und dann musste ich mir noch einen idiotischen Vorwand überlegen, um im Biologielabor ein Mikroskop auszuleihen.«
»Und der Brief?«
»Ist gar nicht so einfach, etwas von der Größe eines Schreibmaschinenpunktes im Auge zu behalten. Ich hatte Angst, ich müsste niesen oder so.« Er neckt sie. Wie er das schon immer gern getan hat. Solche Frotzeleien sind wie eine heimliche Liebkosung, beunruhigend und prickelnd zugleich.
»Aber du hast ihn gelesen?«
»Ja, hab ich. Sehr einfallsreich. Eine Art fotografischer Verkleinerungsprozess …«
»Ist doch jetzt egal. Was stand drin?«
»Der Brief war ausgesprochen schmeichelhaft. Schmeicheleien von Professor Chadwick sind ein seltenes Gut. Er war im letzten Krieg in Deutschland interniert, wusstest du das? Er kennt Deutschland und die deutsche Wissenschaft wie seine Westentasche. Ein gefährlicher Feind. Churchill wettert über sie und bezeichnet sie als Hunnen, aber Chadwick kennt sie. Die Frage ist, falle ich auf seine Schmeicheleien rein?«
»Es sind keine Schmeicheleien, Clément. Himmel noch mal, sie brauchen dich wirklich.«
»Aber wer genau braucht mich und wozu?« Er lacht und sieht auf seine Uhr. »Wenn wir uns nicht sputen, kommen wir noch zu spät ins Theater.«
Sie machen sich auf den Weg, spazieren Arm in Arm und ganz wie von selbst im selben Tempo, als wären sie darin geübt, zusammen zu gehen. Alice’ anfängliche Befürchtungen lösen sich im abendlichen Sonnenlicht auf. Die Stadt hat es endlich geschafft, eine Art Zauber zu entfalten und eine ganz passable Imitation ihres alten Selbst zu liefern: Paris, wie es vor dem Krieg war. Die Platanen auf dem Boulevard Saint-Michel werfen goldrote Blätter ab, als wäre nichts Besonderes geschehen, als gäbe es keinen Krieg, keinen Einmarsch, keine Besatzung. Unweit vom Lycée Saint-Louis kommen sie an einem Café vorbei, das bei Studenten beliebt ist, junge Männer mit langen Haaren, junge Frauen mit kurzen Röcken und bunten Strümpfen. Einer von den jungen Burschen ruft: »Bonsoir, prof!« und hebt anerkennend den Daumen. Eine andere Stimme tönt: »Quelle bonne gonzesse!« Lachen folgt ihnen die Straße hinunter.
»Zazous«, sagt Clément. »Die Polizei nimmt sie regelmäßig fest und schneidet ihnen die Haare ab. Steckt sie auch schon mal ins Gefängnis. Die Obrigkeit weiß, wie sie mit politischen Widersachern umzugehen hat. Das ist einfach. Aber diese jungen Leute sind unpolitisch, und das irritiert sie.«
Sie gehen weiter, halten jetzt Händchen, obwohl sie nicht genau weiß, was Händchenhalten bedeuten soll. Als sie am Fluss sind, bleibt sie stehen und schaut sich um. Genau hier ist sie damals mit ihm spazieren gegangen, im Frühjahr 1939 , zusammen mit Ned und ihrem Vater. Sie denkt über diese seltsame Überlappung nach: wie weit dieser Ort jetzt von jenem Sommernachmittag entfernt ist. Im starren dreidimensionalen Raster scheint es derselbe Ort zu sein: Da ist die Pont Saint-Michel; da sind die Pfeiler und Türme von Notre-Dame, von der untergehenden Sonne golden überhaucht; weiter vorn die steilen Dächer vom Palais de Justice. Aber es ist ein gänzlich anderer Ort, wenn die vierte Dimension, die Zeit, von ihren Fesseln befreit wird. Das naive junge Mädchen im hellen Sommerkleid gibt es nicht mehr. Sie geht nicht mehr Hand in Hand mit ihm am quai entlang und würde am liebsten hüpfen wie ein Kind. Sie wird nicht mehr rot, wenn er ihr Komplimente macht. Sie ist jetzt eine Frau, grau gekleidet wie die Stadt selbst, ein halbes Jahrzehnt und eine halbe Welt entfernt. Und jetzt weiß sie, dass der Mann neben ihr damals, an jenem fernen Sommertag, damit befasst war, sich seinen Weg durch die Komplexitäten der Kernphysik zu bahnen, auf dem Weg zu einer möglichen Atombombe.
Sie fragt: »Warum bist du 1940 nicht zusammen mit den anderen aus Frankreich weg, Clément?«
Er antwortet nicht sofort, als hätte die Frage ihn überrascht. »Ich hab gedacht, ich müsste hier weitermachen«, sagt er schließlich. »Hier gehöre ich hin. Anders als Kowarski oder von Halban. Anders als du. Frankreich ist alles, was ich habe, in guten wie in schlechten Zeiten.«
»Ich liebe Frankreich auch.«
»Mit Liebe hat das nichts zu tun. Es ist profaner. Eher eine Gewohnheit. Und noch etwas anderes, vielleicht eine Art
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