Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
könnte, ihn zu öffnen, und das würde genügen, um das Ding detonieren zu lassen.
An der Station Réaumur-Sébastopol muss sie umsteigen, schleppt das verhasste Ding durch die Tunnel, wo ihre Schritte von den gefliesten Wänden widerhallen. Sie meidet Blickkontakt mit anderen, die in dieselbe Richtung gehen, versucht, möglichst nicht aufzufallen. »Darf ich Ihnen helfen, Mam’selle ?«, sagt eine männliche Stimme neben ihr, und schon streckt sich eine Hand aus, um den Griff zu nehmen. Sie zieht den Koffer weg, ohne zur Seite zu schauen. Doch selbst aus dem Augenwinkel erkennt sie die graugrüne Uniform mit den schwarz-silbernen Rangabzeichen. Ein Major der Wehrmacht. »Es geht schon, danke.«
»Wie Sie wünschen.« Er spricht ganz gut Französisch und macht einen stillen und höflichen Eindruck. Er folgt ihr auf den Bahnsteig und wartet neben ihr auf den nächsten Zug. »Wollen Sie zum Bahnhof Montparnasse?«
»Nein.«
Er blickt nach unten. »Der Koffer ist ein Symbol für unsere Zeit geworden, nicht? So viele Leute haben ihr ganzes Leben in einen Koffer gepackt. Bedauerlicherweise.«
Sie zuckt die Achseln, ohne auf ihn einzugehen, und betet, dass der Zug endlich kommen möge. Als er in die Station einfährt, folgt der Offizier ihr in den Wagen und setzt sich ihr gegenüber. Ein schwaches Lächeln umspielt seine Lippen, als würde er ihr Geheimnis kennen. »Lassen Sie mich raten …«, sagt er. Der Zug fährt los. Andere Fahrgäste schauen weg. »… Sie wollen nicht zum Bahnhof, das heißt, Sie wollen nicht verreisen. Sie sind zu Besuch hier. Ja genau! Sie besuchen Ihre betagte Tante, die ganz allein in Montparnasse lebt.«
Die Fahrtzeit zwischen den Stationen beträgt knapp eine Minute im Durchschnitt. Sie hat sechs Haltestellen. Plus die Zeit fürs Aus- und Einsteigen der Leute, wie viel macht das? Sie versucht, es im Kopf auszurechnen, während der lächelnde Offizier weiter versucht, den Grund für ihren Parisbesuch zu erraten.
»Oder Sie besuchen Ihren Freund. Sie wollen zu Ihrem Freund, und das ist einer von diesen Rive-Gauche -Intellektuellen, von denen Ihre Eltern nichts halten. Ein Dichter vielleicht. Oder ein Philosoph.«
»Lassen Sie sie in Ruhe«, sagt eine Frau.
»Verzeihung?«
»Ich hab gesagt, lassen Sie sie in Ruhe.« Die Sprecherin ist eine nachlässig gekleidete, graue Frau mittleren Alters. Ihr Gesicht ist grau, ihre ganze Erscheinung ist grau, aber sie hat als Einzige den Mut, sich für eine junge Frau einzusetzen. »Höflichkeit ist Höflichkeit, egal welche Uniform Sie tragen.«
Der Major scheint perplex. »Entschuldigung.« Er neigt den Kopf in Richtung der Frau und dann Richtung Alice. »Ich bitte um Verzeihung, falls ich Ihnen zu nahe getreten bin. Ich wollte bloß höflich mit Ihnen plaudern.«
»Höflichkeit ist nicht, fremden Leute, die in Ruhe gelassen werden wollen, ein Gespräch aufzudrängen«, bemerkt die Frau mit einem energischen Nicken, als wollte sie ihren Standpunkt unterstreichen. Alice lächelt ihr dankbar zu. Verlegen wendet der Major den Blick ab und sieht woandershin, betrachtet die Leute, die bei jedem Halt hereindrängen, die Hinweisschilder über den Sitzen, die Dunkelheit hinter den Fenstern.
Als der Zug vor der Einfahrt in die Station Saint-Michel langsamer wird, steht Alice auf und geht zur Tür. Der Major folgt ihr und bleibt dicht hinter ihr stehen, während sie darauf wartet, dass der Zug hält und die Türen aufgehen. Als sie aussteigt, tut er es ihr gleich. Sie geht weiter, bemüht, nicht auf seine Nähe zu achten, doch unten an der Treppe stauen sich die Leute, und der Major holt sie ein. Sie bewegen sich langsam vorwärts. Irgendetwas blockiert den Ausgang, verlangsamt den Menschenstrom. Rafle , sagt jemand. Das Wort macht die Runde. Rafle . Kontrolle. Oben an der Treppe ist Tageslicht zu sehen, und sie kann Uniformen erkennen, sich drängelnde und schubsende Menschen, das allgemeine Durcheinander von Männern und Frauen, die hektisch nach ihren Papieren suchen, ihre Taschen öffnen. Eine deutsche Stimme ruft irgendwas auf Französisch. Leute murren und fluchen. Sie packt ihren Koffer fester. Vielleicht kann sie ihn einfach stehen lassen. Vielleicht kann sie kehrtmachen und in den nächsten Zug steigen. Die Menge schiebt sie weiter nach vorn. Panik steigt in ihr auf, eine Flutwelle aus Schweiß und Herzrasen, ein seltsames Klingeln in den Ohren.
»Bitte«, sagt der Major an ihrer Schulter. »Wir wollen uns doch durch diesen Unfug nicht
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