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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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Ehrgefühl. Klingt das sehr schwülstig?«
    »Ziemlich.«
    »Dann eben Pflichtgefühl. Ich bin nicht stolz auf das, was passiert ist. Wer ist das schon. Aber ich finde, ich kann die Verantwortung nicht einfach so abschütteln.«
    »Und das würdest du, wenn du nach England abhauen würdest?«
    »Möglicherweise, ja.«
    »Aber vielleicht würdest du damit ja gerade Verantwortung übernehmen.«
    Er lacht. »Du hast schon immer gern verbissen argumentiert, selbst bei Dingen, von denen du keine Ahnung hattest.«
    Sie überqueren die Brücke und gehen am Palais de Justice vorbei. Hakenkreuzfahnen hängen an der Fassade des Gebäudes, die Farben von Siegelwachs und Stiefelwichse. Deutsche Soldaten stehen Wache, scheinbar ohne von den Passanten Notiz zu nehmen, dennoch fühlt sie sich schutzlos, eine Maus, die über ein Feld huscht, während Habichte am Himmel kreisen. Es ist eine Erleichterung, das rechte Seine-Ufer zu erreichen und Pariser auf der Place du Châtelet zu sehen, voll besetzte Cafés, eine Menschentraube vor dem Theatereingang, auch wenn zwischen den Leuten, die sich langsam durch die Türen ins Foyer schieben, ein paar graugrüne Uniformen sind. Plakate kündigen das Stück an – Les Mouches . Der Autor ist ein aufgehender Stern in der literarischen Welt der Stadt, ein Philosophielehrer, der bereits mit einem Roman und einer Kurzgeschichtensammlung von sich reden gemacht hat. »Der Romantitel lautet La Nausée «, sagt Clément, und sie lacht. »Ekel? Brechreiz? Wieso so zurückhaltend? Wieso nicht gleich ›Kotze‹?« Aber die Vorstellung ist nicht besonders komisch, genauso wenig wie das Theaterstück, das sich als Neubearbeitung der griechischen Sage von Orest und Elektra entpuppt, eine beißende Mischung aus Ritualen und Gewalt, mit einem Protagonisten, der seine Freiheit von den Göttern dadurch beweist, dass er mordet, und mit Erinnyen, die die Figuren umschwirren wie Fliegen einen Haufen Exkremente. Der seltsame Sog des Stücks findet seinen Widerhall in den halb leeren Straßen der Stadt, in den überfallartigen Razzien und sinnlosen Verhaftungen, im heimlichen Einverständnis der Bewohner und dem Trotz weniger Nichtangepasster. »Pardonnez-nous de vivre alors que vous êtes morts«, wiederholt der Chor, und im halb vollen Theater stoßen einige Zuschauer Beifallsrufe aus. Vergebt uns, dass wir leben, während ihr tot seid.
    Um neun sind sie wieder zu Hause, nachdem sie auf dem Rückweg über das Stück diskutiert haben. Es geht um die Besatzung und den Widerstand. Nein, darum geht es nicht. Es zeigt, dass das französische Volk um seine Freiheit kämpfen soll. Es zeigt lediglich, dass Gewalt als heroisch betrachtet werden kann. »Und die Kulissen«, ruft sie lachend. »Und diese albernen Masken!«
    Marie hat ihnen in der Küche etwas zu essen hingestellt. Sie sind wie Studenten, die sich eine Wohnung teilen, von schmaler Kost und von der Hand in den Mund leben. Nur der Wein ist nach wie vor erlesen. Er hebt sein Glas, um ihr zuzuprosten, doch worauf genau er trinkt, ist nicht klar. Eine Haarsträhne hat sich aus ihrem Nackenknoten gelöst, und er greift danach und streicht sie ihr hinters Ohr. Sie erkennt die Geste wieder, spürt sie auf eine Art, die sie nicht kontrollieren kann – elementarer als eine bloße Emotion, etwas Organisches, das in ihr aufwallt, sich aber nur in banalen Kleinigkeiten manifestiert: in der Beschleunigung ihres Herzschlags, in der Röte, die ihr den Hals hinaufkriecht, den tieferen Atemzügen. »Und wie geht’s jetzt mit uns weiter, Äffchen?«, fragt er.
    »Gar nicht, Clément. Ich bin nicht hergekommen, um deine Geliebte zu werden. Ich bin nur aus einem Grund hier: dich nach England zu holen. Du musst dich bloß entscheiden. Können wir uns nicht wenigstens darauf einigen, dass es in dem verdammten Theaterstück genau darum geht? Eine Entscheidung zu treffen.«
    Er lacht und wendet sich seinem Essen zu. »Du lässt nicht locker, was? Du solltest Anwältin werden, wenn dieser ganze Schlamassel vorbei ist. Du würdest niemals einen Zeugen vom Haken lassen.«
    »Ich hab einen Auftrag zu erledigen. So einfach ist das. Ich muss es wissen.«
    Er zögert, als würde er versuchen, sich eine Antwort zurechtzulegen. »Im Labor macht eine Geschichte die Runde«, sagt er schließlich, »eigentlich ein Gerücht, aber mehr haben wir ja heutzutage nicht – bloß Gerüchte und Spekulationen. Es geht um Bohr. Sagt dir der Name Bohr noch was? Ich hab früher viel von ihm gesprochen.

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