Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
schließt den Vorhang wieder sorgfältig, achtet darauf, dass kein Lichtspalt von draußen zu sehen ist. »Das ist eine Form von Wasser, die für die Kernspaltung verwendet werden kann. Es war Kowarskis Lieblingsprojekt. Er und von Halban haben unseren ganzen Vorrat mitgenommen, als sie von Bordeaux aus geflohen sind, einhundertsechsundachtzig Liter von dem Zeug, alles aus Norwegen. Genau genommen der Gesamtvorrat der Welt. Wir hatten es im Frühjahr 1940 nach Frankreich geschmuggelt, aber wir hatten kaum Zeit, irgendwelche Versuche zu starten, da mussten wir alles schon wieder wegschaffen.«
»Damit es den Deutschen nicht in die Hände fiel?«
»Genau.«
»Angefangen hat die ganze Sache aber in Deutschland, nicht? Ned hat was von Hahn erzählt.«
Er setzt sich wieder an den Tisch. »Mit Hahn und Straßmann hat es angefangen, ja, mit ihren ersten Forschungen in Sachen Kernspaltung. Am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin. Aber Irène Curie und Pavel Savitch haben hier am Radium-Institut dieselbe Arbeit gemacht.«
»Aber wenn die Deutschen damit angefangen haben, könnten sie es doch genauso gut zu Ende bringen, oder nicht?«
Er zuckt die Achseln. »Ich weiß nicht. Die erforderlichen Leute hätten sie – Hahn, Diebner, Weizsäcker, Heisenberg, vor allem Heisenberg. Sie haben eine Forschungsgruppe gegründet, die sich Uranverein nennt. Gentner ist der Name mal in einem Gespräch rausgerutscht, als er hier war. Fred und ich haben vermutet …«
»Was habt ihr vermutet?«
»Dass sie versuchen würden, die Kernspaltung zur Energieerzeugung zu nutzen. Gentner hat eine Uranmaschine erwähnt, eine Art Atomkerngenerator, der in der Lage wäre, eine kontrollierte Kettenreaktion aufrechtzuerhalten und unbegrenzt Energie zu erzeugen. Es ist eine durchaus realistische Möglichkeit. Leichter als eine Bombe. Das schwere Wasser dient dabei als Moderator …«
»Aber es könnte sein, dass sie an einer Bombe bauen?«
»Möglicherweise. Die Ressourcen haben sie. Die Tschechoslowakei kann Uran liefern und Norwegen schweres Wasser. Schwierig könnte es meiner Meinung nach werden, ausreichende Mengen des richtigen Uranisotops zu bekommen. Das ist sehr selten.« Er breitet hilflos die Hände aus, als wären soeben Dinge, die er sicher festgehalten hat, überall auf dem Boden verteilt worden. »Ich dürfte dir das alles gar nicht erzählen, Marian.«
»Aber du erzählst es mir.« Sie sucht nach Worten, während Zorn in ihr hochkocht, eine Lava aus heißer Wut. »Das ist die Büchse der Pandora, nicht?«, entfährt es ihr schließlich. »Ihr Wissenschaftler macht sie auf, um festzustellen, was drin ist, und alle Übel der Welt fliegen heraus. Und wenn sie einmal draußen sind, kriegt keiner sie wieder rein.«
Clément lacht über ihre Empörung, aber es ist ein Lachen bar jeden Humors. »Ich denke, du hast recht, mehr oder weniger.«
»Ned hat gesagt, so eine Bombe könnte eine ganze Stadt auslöschen. Mit einem Schlag.«
Clément nickt. Es ist eine nüchterne Geste, und gerade das ist so erschreckend. »Meiner Schätzung nach würde eine einzige Atombombe das gesamte Zentrum einer Großstadt wie Paris völlig verwüsten, einschließlich Montmartre im Norden und Montparnasse im Süden. Und zwar wortwörtlich – es würde kein Gebäude mehr stehen. Darüber hinaus, in einem Radius von, sagen wir, drei oder vier Kilometern, wäre die Zerstörung vergleichbar mit der durch einen normalen Bombenangriff. Im inneren Bereich würde jeder getötet. Außerhalb davon könnten einige überleben, würden aber nach einigen Tagen an den Folgen der Strahlung sterben. Die Frage ist« – er blickt sie über den Tisch hinweg an –, »wie kannst du von mir erwarten, bei so etwas mitzumachen?«
Einen Moment lang wirkt er völlig schutzlos. Fassungslosigkeit macht ein Kind aus ihm. Plötzlich fühlt sie sich älter als er, so alt wie ihre Eltern, älter als ihre Eltern, weiser und trauriger, als überhaupt jemand sein kann. »Vor ein paar Wochen haben sie Hamburg bombardiert«, sagt sie. »Vielleicht hast du davon gehört. Mit gewöhnlichen Bomben natürlich. Sie haben rund sieben Quadratmeilen der Stadt in Schutt und Asche gelegt und dabei achtundfünfzigtausend Menschen getötet. Nicht ein paar Hundert, nicht mal ein paar Tausend. Achtundfünfzigtausend. In welche spezielle moralische Gleichung passen diese Zahlen für dich, Clément? Du kennst dich mit Gleichungen aus – mit deiner Wellenmechanik und was weiß ich alles. Wo ergeben diese
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