Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
niemals zugegeben.«
Wieder zuckt sie die Achseln, wirkt plötzlich verlegen. »Er hat’s mir erzählt. Er ist gar nicht so, wie wir immer dachten.« Sie trinkt von ihrem Kaffee, hält die Tasse Trost suchend mit beiden Händen, blickt zu Alice auf, Angst und Verwirrung in den Augen.
»Wir müssen dich hier rausholen«, sagt Alice. »Wir müssen dich nach Hause bringen, zurück in Sicherheit, zurück zu deiner kleinen Violette.«
Der Name ihrer Tochter ist der Auslöser. Einen Moment lang zaudert Yvettes Gesicht, als könnte es sich nicht entscheiden, welchen Ausdruck es annehmen soll. Und dann, mit einem Mal, löst es sich auf wie eine Papiermaske im Regen, die Züge zerknautschen, verlieren den Zusammenhalt und werden zu etwas anderem, einem bloßen Trümmerantlitz. Sie sitzt da, den Kopf gesenkt, von Schluchzern geschüttelt, und entschuldigt sich dafür, der Sache nicht gewachsen zu sein. Das hat sie schon immer getan: sich für ihre Unzulänglichkeiten entschuldigt. »Ich hab Angst«, sagt sie, während sie Rotz und Wasser heult. »Ich hätte das nie für möglich gehalten, aber ich hab richtig Angst. Ich hab Angst davor, was sie mit mir machen könnten, ich hab Angst davor, was ich ihnen erzählen könnte. Ich hab Angst. Und ich habe Angst davor, was mit Violette passieren könnte, wenn ich nicht überlebe.«
Alice legt ihr einen Arm um die Schultern. »Violette ist in Sicherheit, keine Sorge. Und wir kümmern uns um dich. Wir holen dich raus. Wie kann ich Kontakt zu dir aufnehmen, ohne herkommen zu müssen?«
»Warum willst du nicht herkommen?«
»Du weißt, eine Kontaktperson ist besser. Was ist mit dem Café gegenüber? Kann ich da eine Nachricht hinterlassen?«
»Ich denke ja. Ich bin hin und wieder dort. Der Besitzer ist ein Fettwanst namens Boger. Du kannst bei ihm was hinterlassen.«
»Geh regelmäßig hin und frag nach, ob er eine Nachricht für dich hat. Hast du dein Funkgerät noch?«
Yvette nickt. »Unter meinem Bett. Ich wollte es längst loswerden, aber ich wusste nicht, wie.« Ihre Augen weiten sich. »Du willst es doch nicht benutzen … um Gottes willen, tu das nicht, es ist nicht sicher, glaub mir!«
»Ich lass es für dich verschwinden. Ich nehm’s mit.«
»Es ist gefährlich, mit dem Ding draußen auf der Straße rumzulaufen.«
»Das geht schon. In Paris hat neuerdings jeder einen Koffer dabei.«
Yvette versucht einen Witz. »Aber nicht jeder hat ein B2 -Funkgerät drin.« Kein schlechter Versuch in Anbetracht der Tränen. Alice will sie weiter aufmuntern. »Weißt du, wie ich die Ersatzkristalle für dich hergebracht hab? Versteckt in meinem Briefschlitz.«
»Deinem Briefschlitz?«
Dann begreift sie und prustet los, und Alice ebenso. Sie kreischen beide vor Lachen, ein Lachen, das an Hysterie grenzt. Und dann schlägt die Stimmung gefährlich um, wie ein Wind, der plötzlich die Richtung ändert. »Und das hier hab ich auch noch«, sagt Yvette und zieht die Tischschublade auf. Sie holt etwas hervor, das in einen Lappen eingewickelt ist, und packt es aus. Es ist wie ein Zaubertrick: Erst ist nur ein dreckiger Lappen zu sehen, und im nächsten Moment liegt eine Pistole in ihrer schmalen Hand – eine Neun-Millimeter-Browning-Halbautomatik.
»Mein Gott, Yvette. Wo hast du die her?«
»Gehört zur Standardausrüstung einer Pianistin. Du kannst schließlich nicht so tun, als würdest du was Harmloses machen, oder? Dann kannst du auch genauso gut bewaffnet sein.«
Alice nimmt ihr die Waffe aus der Hand. Das Gefühl ist ihr sofort vertraut, und das beunruhigt sie. Die vielen Stunden Waffenausbildung in der Meoble Lodge. Die verschiedenen Sorten. Mehr Modelle, als ein Soldat je im Leben zu sehen bekommt. Sie richtet die Pistole auf den Boden, zieht das Magazin heraus, lässt den Schlitten ein paarmal vor- und zurückgleiten, drückt den Abzug und lauscht auf das leere Schnappen des Anschlags. »Munition?«
Yvette holt ein geladenes Magazin und eine Schachtel mit einem Dutzend Patronen hervor. »Nimm’s mit«, sagt sie und schiebt alles über den Tisch. »Nimm den ganzen Mist mit.«
VI
Alice trägt den Koffer quer durch die Stadt. Es ist ein abgewetzter Lederkoffer mit ein paar alten Hotelaufklebern drauf und einem kaputten Griff, der behelfsmäßig fest mit Zwirn umwickelt ist. Sie hasst das Teil, weil es schwer und hässlich und gefährlich ist wie eine Bombe. Es steht auf dem Boden des Métrowaggons neben ihren Füßen, wo ein Polizist oder Soldat sie jederzeit auffordern
Weitere Kostenlose Bücher