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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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aufhalten lassen. Erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen, Mam’selle .« Seine Hand ist an ihrer, entzieht ihr den Koffer.
    Sie lässt los, gibt die Bombe ab, die sie im Nu töten könnte. Panik rät ihr, sie soll den Major einfach gehen lassen und versuchen, durch die Station zu entkommen. Sie wäre weg, ehe er dazu käme, einen Blick in den Koffer zu werfen. Sie wäre auf und davon. Aber Panik ist die schlechteste Beraterin. Panik kann töten. Sie folgt ihm nach oben, schiebt sich in seinem Schlepptau durchs Menschengewimmel. Irgendjemand in der Menge ruft: »Scheißflittchen.«
    Oben angekommen, sieht sie, wie deutsche Soldaten und französische Polizisten Papiere überprüfen, Jacken- und Hosentaschen durchsuchen, in Hand- und Reisetaschen stöbern. Vielleicht suchen sie irgendwen, vielleicht ist es auch bloß eine von diesen willkürlichen Kontrollen, die lästige Unannehmlichkeit der Besatzung. Der Major redet mit einem der Soldaten. »Ich kann mich für das Fräulein verbürgen«, sagt er. »Sie ist in meiner Begleitung.« Der Soldat dreht sich zu ihr um und winkt sie durch. Sie passiert die barrage und betritt den rettenden Bürgersteig, wo sie die Luft kühl im Gesicht spürt. Etwas abseits ist eine Gruppe von Männern und Frauen zusammengetrieben worden, die alle den gelben Stern tragen. Ein Stück dahinter werden Menschen auf die Ladeflächen von zwei Lastern gescheucht. Aber niemand interessiert sich für Alice. Ihre Panik ebbt ab, hinterlässt ein Trümmerfeld aus rasendem Puls und weichen Knien und Schweiß.
    Der Major reicht ihr den Koffer. »Leider habe ich einen Termin. Sonst würde ich Sie begleiten.«
    Sie nimmt ihm das Ding ab. »Das geht schon. So schwer ist er ja nicht.«
    »Aber Sie sehen nicht gut aus. Sehr blass.«
    »Das kommt von dem Gedränge …«
    »Vielleicht …« Vielleicht was? Er ist ein gut aussehender Mann, ein nachdenklich aussehender Mann, ein Mann, der einen guten Liebhaber abgäbe, einen guten Ehemann, einen guten Vater.
    »Vielleicht auf einen Kaffee? Ein paar Minuten Zeit hätte ich noch.«
    »Ich kann leider nicht.«
    »Oder wie wär’s, wenn wir uns für später auf ein Glas verabreden?«
    »Ich habe einen Freund, wissen Sie.«
    »Ich wollte damit nicht andeuten …«
    »Die Leute würden das missverstehen, meinen Sie nicht?«
    Er nickt, blickt niedergeschlagen. »Wahrscheinlich, ja.«
    Sie versucht ein Lächeln, dreht sich um und geht, vorbei am Eingang zur Métro, vorbei an den Leuten, die nach und nach die barrage passieren. Und die ganze Zeit weiß sie, dass seine Augen ihr folgen.
    Der Koffer nimmt eine eigene Persönlichkeit an. Er liegt in ihrem Zimmer unter dem Bett versteckt, lauernd. Sie weiß, dass er da ist, Marie weiß, dass er da ist – wie hätte sie ihn auch verbergen können, als sie vor der Wohnungstür stand und darauf wartete, hereingelassen zu werden? Clément wird erfahren müssen, dass er da ist. Ein Koffer. Sie weiß nicht genau, was sie damit machen soll oder was genau sie mit Clément machen soll. Sie weiß überhaupt nicht mehr, was sie machen soll. Das Einzige, was sie weiß, sind die abstrakten Fakten – sie muss eine Rückführung organisieren; sie muss dafür sorgen, dass Yvette zurück nach England kommt; sie muss Clément überreden, sich ebenfalls nach England bringen zu lassen.
    VII
    »In der Métro hat ein Wehrmachtsoffizier versucht, sich an mich ranzumachen«, erzählt sie ihm.
    »Wundert mich nicht. Ich würde auch versuchen, mich in der Métro an dich ranzumachen.«
    »Du bist verheiratet.«
    »Er bestimmt auch.«
    Sie lacht. Sie will sich nicht so entspannt fühlen, aber genau so fühlt sie sich. Sie will nervös sein, beklommen, argwöhnisch, will all das spüren, was ihr in der Ausbildung eingetrichtert worden ist. Doch sie empfindet nur ein absurdes und kindisches Glück in seiner Gegenwart. Und Sicherheit – sie empfindet Sicherheit. Die gefährlichste Illusion überhaupt.
    Wie versprochen, hat er Karten besorgt, für ein Stück im Théâtre de la Cité. Die Vorstellung fängt früh an – in diesen Zeiten fangen alle Vorstellungen früh an, damit die Leute es vor der Sperrstunde nach Hause schaffen –, und sie können bequem zu Fuß gehen. Würde sie das gern?
    »Zunächst einmal würde ich gern wissen, ob du es geschafft hast, den Brief zu lesen.«
    Er zuckt die Achseln, als wäre das nicht besonders wichtig. »Ja, hab ich. Ich bin runter in die Kellerwerkstätten vom Collège und hab mir eine Feile ausgeborgt. Hab erzählt,

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