Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
dem schütteren Haar und dem schmalen Mund spürt sie einen kurzen Moment Panik in sich aufsteigen. »Sind Sie Madame Mercey? Gaillard hat gesagt, Sie würden mich für ein paar Tage unterbringen. Mein Name ist Alice. Ich komme aus Paris.«
Reagiert die Frau auch noch mal? Alice blickt sich um, sieht nach, ob jemand sie beobachtet. Geh niemals direkt zu einem Treffpunkt, haben sie ihr beigebracht. Achte immer auf Anzeichen dafür, dass der Treffpunkt beobachtet wird. Vergewissere dich stets vorher, dass dir niemand folgt, dass du niemanden zum nächsten Glied in der Kette führst. Wenn es ein Haus ist, geh beim ersten Mal schnurstracks dran vorbei, als wolltest du woandershin. Achte auf alles, was irgendwie aus dem Rahmen fällt. Achte auf Leute, die gucken. Achte auf den Mann am Fenster des Hauses gegenüber oder den Straßenfeger, der sich auf seinen Besen lehnt, oder das Liebespaar, das sich scheinbar unterhält und küsst. Erst dann, wenn alles in Ordnung zu sein scheint, nimm einen weiteren Anlauf.
Aber sie hat nichts dergleichen getan. Sie ist einfach die Straße entlang und zu der Tür gegangen, als wären Friedenszeiten, als wäre die Welt nicht im Krieg und das Land nicht vom Feind besetzt.
Sag ihnen, Gaillard schickt dich.
»Bitte«, sagt sie. »Gabrielle Mercey?«
Die Frau zuckt die Achseln, tritt aber dann beiseite und bedeutet Alice mit einer Kopfbewegung einzutreten. Im selben Moment poltern Schritte auf der Treppe, und eine jüngere Frau taucht von oben auf. »Alice!«, ruft sie. Sie ist Mitte dreißig und heiter und nett im Unterschied zu der mürrischen Miene der älteren Frau. »Bist du Alice?« Sie kommt die letzten Stufen herunter und schimpft mit ihrer Mutter, weil sie nicht freundlicher war, dann ergreift sie Alice’ Hand und schüttelt sie. »Komm, gib mir deinen Koffer. Ich bin Gabrielle. Du bist bestimmt ganz verwirrt, aber du gewöhnst dich bald an uns. Maman ist ein alter Griesgram. Sie hat immer was an mir und allem rumzunörgeln, aber sie ist herzensgut. Komm mit nach hinten. Hast du gefrühstückt? Hast du etwas geschlafen? Du liebe Güte, das können ja höchstens ein oder zwei Stunden gewesen sein, oder? Bist du erschöpft?«
Sie geht voraus in die Küche. Die alte Mutter sitzt schon neben dem Herd und strickt einen Schlauch aus brauner Wolle. »Strümpfe für die Männer in Deutschland«, erklärt Gabrielle. »Hab ich nicht recht, Maman ? Strümpfe für die Gefangenen.« Ihre Stimme wird lauter, wenn sie mit ihrer Mutter spricht, sinkt dann bei Alice wieder auf Normalpegel. »Wir zwei sind ganz allein, weißt du. Vielleicht hat Gaillard dir das schon erzählt? Meine Güte, ich freu mich, dass du endlich da bist. Aus dem fernen London!«
»Woher weißt du das? Gaillard hat gesagt …«
»Ach, Gaillard. Der hält mich für blöd. Wir haben letzte Nacht das Flugzeug gehört. Da liegt es doch auf der Hand, oder? Man muss bloß eins und eins zusammenzählen. Aber keine Sorge. Ich bin sehr verschwiegen. Wie heißt du? Ich meine, wer bist du hier? Natürlich nicht mit deinem richtigen Namen. Für uns bist du auf jeden Fall Alice, aber nur, damit ich es weiß.«
»Anne-Marie Laroche.«
»Anne-Marie. Was für ein hübscher Name! Eine Cousine von mir heißt Anne-Marie.« Gabrielle plappert munter drauflos, als gäbe es keinen Krieg und keine Sorgen. »Wie lange bleibst du? Mir ist das egal. Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Wir werden Spaß zusammen haben, nicht?«
Spaß?
»Ich sag, du bist meine Cousine, was meinst du? Nein, ich denke, das würde nicht zu deiner Tarngeschichte passen, was? Dann eine alte Freundin. Wo haben wir uns kennengelernt? In Paris? Ich war ein Jahr in Paris, hab bei einer Familie gelebt und auf die Kinder aufgepasst. Les Invalides. Das Haus hättest du sehen sollen. Er war Arzt und sie, na ja, furchtbar schick, war sich zu fein, um die Kinder zu versorgen. Wir könnten sagen, wir haben uns im Jardin du Luxembourg kennengelernt, wie findest du das? Dahin bin ich immer mit den Kindern gegangen, es würde also passen. Oder im Park vom Champ de Mars. Wo du willst.«
»Ich weiß nicht …«
»Wo hast du in Paris gewohnt?«
Paris . Der Name klingt wie eine Drohung.
»Was meinst du?«
»In deiner Tarngeschichte, Dummerchen.«
»Ach so.« Sie überlegt hektisch, was sie sagen soll, denkt an Clément. »Im Fünften, denke ich.«
»Na bitte, das ist perfekt. Ganz in der Nähe vom Jardin du Luxembourg. Wir sind da ins Gespräch gekommen und Freundinnen
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