Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Schlafmangel ausgelöst wird, und legt sich im Unterrock hin, breitet ihren Mantel und eine Decke über sich und schiebt ihre Pistole unters Kopfkissen. Innerhalb von dreißig Sekunden schläft sie tief und fest, träumt von einem schwankenden, lärmenden Schlauch aus Dunkelheit, und sie fällt und schwingt, die tollkühne junge Frau am Fliegenden Trapez, unter ihr applaudierende Menschen. Auch Benoît ist da, er kann ihr – ein Augenblick großer Peinlichkeit – unter den Rock schauen, und dann, wie das so ist in Träumen, wird aus Benoît Clément, und sie merkt plötzlich, dass sie keinen Schlüpfer trägt.
III
Der Morgen ist eine neue, strahlende Welt der Kälte. Die Nacht war leicht frostig, der erste Frost des Herbstes, und das Sonnenlicht blitzt auf Eiskristallen, als wären es Diamanten. Solche Tage gibt es in England nicht. Da gibt es nur Nebel und Feuchtigkeit und eine raue Kälte, als wäre eine ätzende Chemikalie aus einem Labor entwichen. Die Kälte hier ist dagegen wie Champagner.
Als sie nach unten kommt, liegt Benoît noch auf der ramponierten Couch in der Wohnzimmerecke unter einem Berg Decken und Mäntel. Er stöhnt, als Alice Guten Morgen sagt. »Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan«, jammert er auf Englisch. Sein Ton ist vorwurfsvoll, als hätte die Tatsache, dass Alice tief geschlafen hat, ihm das Gleiche irgendwie unmöglich gemacht. Die Bauersfrau macht ihnen Frühstück. Es gibt Brot und selbst gemachte Pflaumenmarmelade. Und echten Kaffee, den sie mitgebracht haben.
»Wir müssen Französisch sprechen«, ermahnt Alice ihn, als er sich zu ihr an den Tisch setzt.
»Die sollen mich ruhig für einen Engländer halten«, entgegnet er.
»Das ist albern. Und eine Gefährdung der Sicherheit.«
»Hör mal, ich muss diesen Leuten den Umgang mit Waffen und Sprengstoff beibringen. Die halten alle Franzosen für Verlierer und werden sich von einem anderen Franzosen nicht so schnell was sagen lassen wie von einem Engländer. Ein Amerikaner wäre noch besser.«
»Aber du klingst nicht amerikanisch. Du klingst nicht mal englisch. Wenn du Englisch sprichst, hörst du dich an wie Maurice Chevalier.« Sie hat Mühe, sich ihre Belustigung nicht anmerken zu lassen.
»Ich weiß nicht, was daran so komisch ist. Und ich hör mich nicht an wie Maurice Chevalier. Außerdem, selbst wenn, sie würden es gar nicht merken.«
»Vielleicht solltest du dich um einen englischen Akzent bemühen, wenn du Französisch sprichst. Dann denken sie bestimmt, du bist Engländer. Obwohl sie dann wahrscheinlich kein Wort von dir verstehen.« Schließlich kann sie sich das Lachen nicht länger verkneifen. Das Gespräch ist irgendwie absurd: ein Franzose, der sich als Engländer ausgibt, der sich als Franzose ausgibt.
Als sie mit dem Frühstück fertig sind, ist Gaillard bereits mit dem Auto eingetroffen. Es ist ein Citroën Traction Avant , an dessen Heck ein großer Behälter montiert ist, wie ein Warmwasserbereiter. »Un gazogène«, erklärt er. »Habt ihr gazos in England?«
Alice glaubt das nicht, aber sie möchte nicht mal über die Frage nachdenken. Sie will nicht in England sein, nicht mal mit einem flüchtigen Gedanken. Sie ist jetzt Anne-Marie Laroche, die noch nie in England war.
Sie packen ihre Koffer auf den Rücksitz, und er setzt sich dazwischen. Dann zockelt der Wagen auf schmalen Straßen dahin. Sie fahren durch eine leere Landschaft, benutzen Nebenstraßen ohne den geringsten Verkehr, kommen an abgeschiedenen Höfen vorbei, an vereinzelten Weilern. Wo sind die Menschen? Die Gegend wirkt wie ausgestorben, die Dörfer leer. Sie ist beeindruckt von der Weite der Landschaft, die sich ins Unendliche erstreckenden Äcker und Wiesen und Wälder, die weit auseinanderliegenden Dörfer und weiter entfernten Städte, die weiten Eb’nen Frankreichs. Was ist sie und was ist Benoît in diesem gewaltigen Raum? Wie können sie da irgendwas bewirken?
Benoît wird unterwegs in einem der Dörfer abgesetzt. Er wird erwartet, von einer Gruppe, die bereits untergetaucht ist, junge Männer, die der Verschickung in die Zwangsarbeit entkommen sind und im Untergrund leben, in Scheunen und einsamen Bauernhäusern schlafen. Er steigt aus dem Auto und beugt sich durch Alice’ Seitenfenster, um ihr einen Kuss zu geben. »Mach’s gut, Mäuschen«, sagt er auf Englisch. »Pass auf dich auf und halt schön die Knie zusammen.«
Sie weiß nicht, ob sie lachen soll oder wütend werden. Er ist nun mal oft so, flapsig und unreif.
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