Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
getünchten Wänden, einem schmalen Bett, einem Schrank und einer Kommode. Alice fühlt sich wie eine Riesin und muss den Kopf unter der schrägen Decke einziehen. »Das Zimmer von meinem Sohn«, sagt die Gastgeberin. »Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
»Wo ist er?«
Das Gesicht der Frau wirkt plötzlich erschöpft, als ob ihr alles zu viel ist, das Leben auf dem Hof, die Männer, die sich in ihrem Haus breitmachen, die späte Uhrzeit, der Krieg, einfach alles. »Er wurde nach Deutschland geschickt. Zum Arbeiten.« Sie zuckt die Achseln. »So, jetzt schlafen Sie sich erst mal richtig aus.« Sie stellt eine Öllampe auf den Tisch neben dem Bett, setzt ein kurzes, flüchtiges Lächeln auf und geht, zieht die Tür leise hinter sich zu.
Alice schiebt ihren Koffer unters Bett, richtet sich dann auf und schaut sich im Zimmer um. Es riecht feucht, aber das stört sie nicht. Sie interessiert sich jetzt nur für die Fluchtmöglichkeiten. Haltet immer Ausschau nach einem Fluchtweg, einem zweiten Ausgang aus einem Bistro oder einem Restaurant, einem zweiten Weg aus einem Bahnhof. Das haben sie ihr beigebracht. Aber das Fenster lässt sich nicht öffnen, weil der Rahmen dick mit Lack verkrustet ist. Sie geht in die Hocke, um durch die schmalen Scheiben zu spähen. Der Mond steht ganz tief, ist durch Bäume hindurch knapp über dem Horizont zu sehen. Das bedeutet, dass die Sonne bald aufgeht und dass, was immer geschehen soll, geschieht.
Es klopft leise an der Tür. Sie öffnet, und Benoît steht vor ihr, mit dem schiefen, ironischen Blick im Gesicht, den sie einmal so anziehend fand. »Ich wollte nur Gute Nacht sagen«, sagt er.
Sie lässt sich einen keuschen Kuss auf die Wange geben. Er zögert an der Tür. »Kann ich reinkommen? Die ganzen Leute da unten …«
»Nein«, sagt sie, »kannst du nicht.«
»Aber, mon chat …«
Sie legt ihm eine Hand auf die Brust und schiebt ihn zurück. »Nein«, wiederholt sie. »Benimm dich. Und hör verdammt noch mal damit auf, mich so zu nennen. Ich bin weder deine Katze noch dein Hund noch sonst was.«
»Ma puce«, sagt er lachend.
»Geh.«
Sie schließt die Tür und wartet, bis sie ihn die Treppe hinuntergehen hört. Da kein Schlüssel im Schloss steckt, klemmt sie einen Stuhl unter die Klinke, ehe sie sich umdreht und sich auszieht. In dem fleckigen Spiegel am Kleiderschrank sieht sie das unbestimmte Bild einer unbestimmten Frau, die sich die Bluse aufknöpft, aus dem Rock steigt und dann im Unterrock dasteht. Sie denkt an Benoît, an die Tage in England. Die Erinnerung ist lebhaft und scheint doch weit weg, in etwas anderem als Zeit und Raum, als ob sie durch diesen Spiegel in eine andere Welt getreten wäre, eine andere Dimension. ALICE . Alice ohne Nachnamen und ohne Geschichte, ohne Eltern, ohne Geschwister. Bloß Alice, à travers le miroir .
Wo, fragt sie sich, ist Marian Sutro?
Sie zuckt die Achseln, tut ihre alte Identität ab. Sie will Anne-Marie Laroche sein, deren Ausweis, Kleider- und Lebensmittelkarten – die Marken bis genau gestern abgetrennt – sie jetzt in der Handtasche hat. Anne-Marie Laroche, Studentin, die Paris verlassen hat, um sich auf dem Land, wo es ruhig und friedlich ist und wo es anständiges Essen gibt, von einer Lungenentzündung zu erholen. Paris ist unerträglich. An nutzlosen Luxusgütern herrscht kein Mangel, aber an frische Eier und frisches Fleisch ist nicht ranzukommen. Außer zu unverschämten Preisen auf dem Schwarzmarkt natürlich. Und wie soll sie sich so etwas leisten können?
Was studiert sie in Paris?
Also, sie hatte sich gerade für Literatur an der Sorbonne eingeschrieben, als der Krieg ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Und jetzt weiß sie eigentlich nicht, was sie machen soll. Sie hat überlegt, sich eine Stelle als Kindermädchen zu suchen. Sie arbeitet gern mit Kindern.
Wo ist ihre Familie?
Sie hat keine Familie, keine nahen Verwandten.
Wo ist sie geboren?
Das steht in meinem Ausweis. Da. Sehen Sie. Genf, Schweiz . Ihr Vater war im Hotelgewerbe.
War?
Ja, er ist tot. Genau wie ihre Mutter.
Sie blickt Anne-Marie Laroche in dem fleckigen Spiegel finster an. »Ich bin wirklich ganz allein«, sagt sie laut. »Ich muss mich irgendwie durchschlagen.« Durchschlagen. Der französische Ausdruck gefällt ihr wesentlich besser: Je dois me débrouiller , schön nebulös und unklar.
Draußen, hinter den schmutzigen Fensterscheiben, wird der Himmel bereits heller. Sie spürt die seltsame Benommenheit, die durch
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